WSI-Arbeitskampfbilanz für 2008

Rund 1,6 Millionen Beschäftigte haben sich im Jahr 2008 an Arbeitskämpfen beteiligt. Dies sind etwa eine Million Streikende mehr als im Jahr zuvor. Zu diesem Ergebnis kommt das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) in der Hans-Böckler-Stiftung in seiner neuen Arbeitskampfbilanz für 2008.

Dagegen war das Streikvolumen, ausgedrückt in der Zahl der Streiktage, 2008 rückläufig. Nach vorsichtiger Schätzung des WSI fielen durch Arbeitskämpfe einschließlich Warnstreiks 2008 etwa 542.000 Arbeitstage aus. Das sind 25 Prozent weniger als 2007, als das Arbeitskampfvolumen bei zirka 725.000 Streiktagen lag. „Die gegenläufige Entwicklung zeigt: 2008 war ein Jahr mit intensiven Arbeitskämpfen, die überwiegend als Warnstreiks geführt wurden: Es gab relativ kurze Streiks mit vielen Beteiligten. Das spricht für das hohe Mobilisierungspotenzial in den Tarifrunden“, sagt WSI-Arbeitskampfexperte Dr. Heiner Dribbusch.

Die WSI-Analyse bestätigt vom Trend her die heute veröffentlichte offizielle Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA), weicht jedoch bei den Werten erheblich nach oben ab. Die Statistik der BA weist für 2008 lediglich 154.000 Streikende aus – gegenüber 106.000 Streikenden 2007. Als Arbeitskampfvolumen registriert die BA für 2008 rund 132.000 durch Arbeitskämpfe ausgefallene Arbeitstage – gegenüber 286.000 im Jahr 2007 (Daten zum Arbeitskampfvolumen in den vergangenen Jahren in Grafik 1 im Anhang zu dieser PM; Link zur PM mit Anhang am Fuß dieses Textes).

„Die offizielle Streikstatistik ist eine wichtige Orientierungsmarke. Aber sie hat methodische Schwächen. Deshalb bildet sie das Arbeitskampfgeschehen nur lückenhaft ab“, so WSI-Forscher Dribbusch. „Wir versuchen diese Lücke mit unserer Bilanz zu schließen.“ Dabei bestätigen sich Trends, über die das WSI bereits in den Vorjahren berichtete: „Es gibt heute wieder mehr und härtere Arbeitskämpfe als zu Beginn des Jahrzehnts. Aber im längerfristigen Vergleich ist das Niveau moderat – vor allem, wenn man es an den 70er und 80er Jahren misst. Auch im internationalen Vergleich ist Deutschland nach wie vor eher streikarm“, sagt Dribbusch (mehr zur offiziellen Streikstatistik und zum internationalen Vergleich siehe unten).

Arbeitskämpfe im Jahr 2008
Mit Blick auf die Zahl der Streikenden waren die Warnstreikwellen während der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes die umfangreichsten Arbeitskämpfe im Jahr 2008. Insgesamt traten hier nach Dribbuschs Untersuchung etwa 430.000 Beschäftigte in den Ausstand. In der Metall- und Elektroindustrie gab es 2008 zwei Auseinandersetzungen mit jeweils mehreren Warnstreikwellen: Im Zuge des Konflikts um die Altersteilzeit beteiligten sich etwa 360.000 Beschäftigte an Warnstreiks. Während der Entgelttarifrunde waren es rund 616.000 Streikende. Weitere große Warnstreiks fanden unter anderem in der Stahl- sowie in der Textil- und Bekleidungsindustrie statt.

Nach 15 Monaten und mehr als 6.000 Streikaktionen mit zusammen 200.000 Streikenden ging im Sommer 2008 der bisher längste Arbeitskampf im Einzelhandel zu Ende. Ein fünftägiger Streik mit ca. 5.000 Streikenden begleitete im Juli 2008 die Tarifauseinandersetzung bei der Lufthansa. Weitere Erzwingungsstreiks gab es unter anderem im öffentlichen Dienst in Berlin sowie bei den Berliner Verkehrsbetrieben. Wie in den Vorjahren gab es zahlreiche betriebliche Arbeitskämpfe um Haustarifverträge.

Bei der Streiktaktik beobachtet WSI-Experte Dribbusch eine Fortsetzung des Trends aus den letzten Jahren: Arbeitskämpfe bestehen zunehmend aus zahlreichen flexiblen, zeitlich begrenzten Arbeitsniederlegungen. Auf Tage oder Wochen angelegte Dauerstreiks sind die Ausnahme.

Zunahme der Konflikte
Die amtliche Statistik der Bundesagentur für Arbeit zählt zwar nur Ausfalltage, nicht einzelne Streiks. Doch deutet nach der WSI-Analyse vieles daraufhin, dass die Zahl der Tarifkonflikte in den letzten Jahren zugenommen hat. Ein Indikator dafür ist, dass die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di 2008 insgesamt 149 Anträge auf Arbeitskampf (einschließlich Warnstreik) und Urabstimmungen genehmigte. 2007 waren es 82, 2004 lediglich 36.

Forscher Dribbusch nennt mehrere Gründe für die Zunahme von Arbeitskämpfen: Viele Unternehmen und Arbeitgeberverbände versuchten aggressiver, eigene Ziele durchzusetzen, beispielsweise längere Arbeitszeiten. Auch auf Seiten der Beschäftigten sei die Konfliktbereitschaft gewachsen. Hinzu komme eine Zersplitterung der Tariflandschaft, wie sie sich etwa im ehemals einheitlich verhandelnden öffentlichen Dienst zeigt.

Offizielle Streikstatistik mit erheblichen Lücken
Arbeitskampfexperte Dribbusch geht davon aus, dass die offizielle Streikstatistik das Arbeitskampfgeschehen nur lückenhaft abbildet. Ein Grund: In die amtliche Arbeitskampfstatistik werden nur solche Streiks einbezogen, an denen je erfasstem Betrieb mindestens 10 Beschäftigte beteiligt waren und die mindestens einen Tag dauerten oder durch die je Betrieb ein Ausfall von mindestens 100 Arbeitstagen verursacht wurde. „Durch diese Grenzen werden viele Streikaktionen als so genannte Bagatell-Streiks nicht in die Statistik aufgenommen“, erklärt WSI-Forscher Dribbusch. Dies kann die systematische Untererfassung freilich nur zu einem Teil erklären, auch wenn nach Angaben der Bundesagentur immerhin 74.000 Streikende und 19.000 Streiktage auf Grund von „Bagatell-Streiks“ in 2008 aus der Statistik fielen.

Die wichtigste Fehlerquelle liegt im Erhebungsverfahren selbst: Basis für die BA-Statistik sind Meldungen der Unternehmen. Diese sind zwar vorgeschrieben, die Einhaltung wird aber nicht kontrolliert, es gibt keine Sanktionen. Eine unbekannte, aber nach Dribbuschs Erfahrung große Zahl von Streikaktionen wird gar nicht erst von den Betrieben gemeldet. Gerade in kleineren und mittleren Betrieben dürfte die Pflicht zur Meldung von Arbeitskämpfen nicht einmal bekannt sein.

Demgegenüber basiert die Schätzung des WSI auf der Auswertung von Streikmeldungen in den Medien sowie auf Gewerkschaftsangaben. Insbesondere bei summarischen Angaben zu Warnstreiks sei eine gewisse Überhöhung der Teilnehmerzahlen nicht auszuschließen, erklärt Dribbusch. Dies wurde bei der Einschätzung des Streikvolumens berücksichtigt.

Deutschland weiter relativ streikarm
In der auf offiziellen Daten basierenden internationalen Vergleichstatistik belegt Deutschland einen der unteren Plätze. Für die zehn Jahre von 1998 bis 2007 – dem derzeit letzten Jahr, für das Daten aus dem Ausland vorliegen – ergeben sich auf Basis der amtlichen Statistik durchschnittlich rund vier arbeitskampfbedingte Ausfalltage im Jahr pro 1.000 Beschäftigte und ein Platz am unteren Ende der Statistik (vgl. Grafik 2 im Anhang). Für die streikstärkeren fünf Jahre von 2004-2008 weist die offizielle Statistik in Deutschland durchschnittlich 5,2 arbeitskampfbedingte Ausfalltage im Jahr pro 1.000 Beschäftigte aus.

Allerdings beinhalten diese Daten nach Dribbuschs Analyse ebenfalls Unterschätzungen. Die tatsächlichen Werte dürften deutlich höher sein. Eine Neuberechnung auf Basis der WSI-Schätzungen ergäben für die Jahre von 2004 bis 2008 durchschnittlich ca. 18 Ausfalltage im Jahr pro 1.000 Beschäftigte. Im internationalen Vergleich müsste die Bundesrepublik aber auch mit diesem Wert als relativ streikarm gelten. „Selbst wenn man nur den deutschen Wert nach oben revidieren und die ausländischen Vergleichswerte nicht verändern würde, läge die Bundesrepublik weiter im unteren Bereich der OECD-Länder“, betont der Forscher.

Dazu kommt: Wollte man den internationalen Vergleich auf eine neue Basis stellen, fielen auch in anderen Ländern die Streikzahlen tendenziell höher aus, so Dribbusch. Denn nicht nur in Deutschland bilde die offizielle Statistik das Arbeitskampfgeschehen nur eingeschränkt ab. So gelten in Großbritannien die gleichen Abschneidegrenzen wie in Deutschland. In den USA werden lediglich Streiks mit mehr als 1.000 Beteiligten registriert. Die französische Streikstatistik gilt als lückenhaft. Belgische Streikzahlen beinhalten nicht den öffentlichen Dienst und in Österreich wurden die Generalstreiks gegen die Pensionspläne der Regierung aus dem Jahr 2003 nachträglich wieder aus der Statistik genommen.

Die PM mit Grafik-Anhang: http://www.boeckler.de/pdf/pm_ta_2009_04_21.pdf

Ansprechpartner in der Hans-Böckler-Stiftung

Dr. Heiner Dribbusch
WSI
Tel.: 0211-7778-217
E-Mail: Heiner-Dribbusch@boeckler.de
Rainer Jung
Leiter Pressestelle
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