Besser lernen auf dem "Schaukelstuhl"

Schulstühle, die sich stufenlos in der Höhe verstellen lassen und mit beweglicher Sitzfläche und Rückenlehne ausgestattet sind, verbessern die Durchblutung von Körper und Gehirn. Das steigert die Leistungsfähigkeit.

Die Schüler arbeiten ausdauernder und konzentrierter. Zu diesem Ergebnis kommt eine wissenschaftliche Studie des interdisziplinären Kid-Check-Projekts an der Universität des Saarlandes sowie der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung in Wiesbaden.

Herkömmliche Schulmöbel hingegen leisten Haltungsschäden Vorschub, beeinträchtigen durch eine ungünstige Sitzposition die Versorgung des Gehirns mit Sauerstoff und mindern dadurch das Denkvermögen der Kinder.

Die Forscher untersuchten im Laufe eines Schultages an 20 Mädchen und Jungen einer achten Klasse des Gymnasiums am Krebsberg in Neunkirchen (Saarland), wie sich verschiedene Stühle auf die Durchblutung auswirken. Dazu setzten die Wissenschaftler eine speziell für medizinische Zwecke entwickelte, hochempfindliche Wärmebildkamera ein. Diese kann Temperaturunterschiede des Körpers auf hundertstel Grad genau bestimmen.

Zu Beginn des Unterrichts wurde mit Hilfe der thermografischen Fotos die Rumpf-Temperatur (Brustbereich und Rücken) der im Durchschnitt 14 Jahre alten Schüler gemessen. Die Raumtemperatur lag bei 23 Grad Celsius, die Hauttemperatur der untersuchten Jugendlichen schwankte zwischen 34,5 und 33,3 Grad. Danach absolvierten die Schüler auf ihren herkömmlichen und unbeweglichen Holzstühlen eine Unterrichtsstunde mit Lesen, Schreiben und Zuhören. Nach diesen 45 Minuten maßen die Wissenschaftler erneut die Temperatur des Oberkörpers. „Die Ergebnisse zeigen, dass bei den meisten Testpersonen in der klassischen, unbewegten Sitzhaltung die Oberkörper-Temperatur abgefallen ist“, erläutert der Leiter der Studie, Dr. Oliver Ludwig, vom Sportwissenschaftlichen Institut der Universität des Saarlandes.

In den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden mussten sich die Mädchen und Jungen ruhig verhalten. Sie durften nicht laufen und nicht toben, damit sich ihre Temperatur durch die körperliche Aktivität nicht erhöhte. In den nächsten beiden Schulstunden nahm die Hälfte der Schüler auf stufenlos höhenverstellbaren Roll-Drehstühlen mit beweglichen Sitzflächen und Lehnen Platz. Die übrigen Schüler nutzten weiterhin die herkömmlichen Stühle. Nach dieser Unterrichtsstunde war bei den Schülern auf den beweglichen Stühlen die Hauttemperatur wieder angestiegen, teilweise sogar über den Ausgangswert zu Beginn des Unterrichtes. „Bei der Gruppe auf den herkömmlichen Stühlen war das nicht der Fall“, berichtet Oliver Ludwig.

Die höhere Temperatur der Jugendlichen auf den beweglichen Stühlen ist darauf zurückzuführen, dass die Haut beziehungsweise die darunter liegende Muskulatur stärker durchblutet wurde. „Auf den beweglichen Stühlen werden die Schüler nicht in eine passive Sitzposition gezwungen, sondern sind ständig, wenn auch kaum merklich, in Bewegung. Das aktiviert die Muskeln und regt die Durchblutung an“, erklärt Dr. Dieter Breithecker, Leiter der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung. „Dieses aktive Sitzen verhindert, dass die Kinder dauerhaft eine nach vorn gebeugte Haltung einnehmen, die die Durchblutung hemmt“, sagt der Bewegungswissenschaftler.

Dass durch ungeeignete Schulmöbel die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit beeinträchtigt wird, kritisiert auch Professor Dr. Eduard Schmitt von der Orthopädischen Universitätsklinik in Homburg. Er ist der medizinische Leiter der Aktion Kid-Check. „Oft sitzen Kinder mit ganz unterschiedlicher Körpergröße auf den gleichen Stühlen. Sind die Schulmöbel zu klein, nehmen die Schüler eine gebückte Arbeitsposition ein, bei der sich der Oberkörper nach vorn neigt“, erklärt Schmitt. In dieser ungünstigen Sitzhaltung hängen Schultern und Kopf nach unten, es bildet sich ein Rundrücken. Viele Mädchen und Jungen sitzen in der Schule und danach bei den Hausaufgaben und vorm Computer acht bis zwölf Stunden am Tag in gebückter Haltung. Dadurch droht der Rundrücken zu einem nicht mehr behebbaren Haltungsschaden zu werden. „Bei Kindern wachsen die Wirbelkörper noch und reagieren sehr empfindlich auf einseitige Belastung“, erläutert Eduard Schmitt. „Sitzt ein Kind dauerhaft nach vorne gebeugt, werden vorwiegend die vorderen Abschnitte der Wirbelkörper belastet. Dadurch wird ihr Wachstum an dieser Stelle frühzeitig gestoppt, hinten wachsen die Wirbel jedoch weiter. Die Wirbel werden keilförmig, es entwickelt sich zunehmend ein Rundrücken. Diese Haltungsschwäche wird schließlich zu einem Haltungsschaden, der nicht mehr zu beheben ist“, warnt der Experte.

Die Ergebnisse der Wärmebilduntersuchung lassen den Schluss zu, dass diese gebückte Körperhaltung auch zu einer mangelhaften Durchblutung der Rumpfmuskulatur führt.

In der Rundrückenposition üben die an der Wirbelsäule aufgehängten Rippen einen erhöhten Druck auf das Brustbein aus, das dadurch Richtung Lunge gepresst wird. „Der verkleinerte Umfang des Brustkorbs behindert die Atmung“, sagt Eduard Schmitt, „die Muskulatur wird weniger durchblutet, und das Gehirn wird schlechter mit Sauerstoff versorgt. Konzentration und Leistungsfähigkeit lassen nach.“

Die herkömmlichen, unbeweglichen Schulstühle mit ihren geraden Sitzflächen und Sitzmulden ermöglichen den Kindern nur eine Sitzhaltung, bei der die Oberschenkel ständig in rechtem oder kleinerem Winkel zum Rumpf stehen. In dieser Position dreht der hintere Teil des Beckens um fast 30 Grad nach unten und zieht dadurch die Wirbelsäule in eine Rundrückenhaltung. Das Kind sitzt auffällig krumm. Stühle mit unbeweglicher Sitzfläche und fester Lehne werden aus der Überlegung heraus gebaut, dass sie den Rücken stützen und die Wirbelsäule entlasten. Doch kein Mensch kann über längere Zeit unbewegt in einer Sitzposition verharren. „Fünf- bis neunjährige Kinder können höchstens zehn Minuten lang still sitzen“, erklärt Dieter Breithecker. „Bei Zehn- bis Zwölfjährigen sind es 15 Minuten, bei 13- bis 18-Jährigen allenfalls 25 Minuten.“ Dann beginnen die Schüler, hin und her zu rutschen und kippeln mit ihren Stühlen. Dabei bewegen die Kinder auch Füße und Beine. Medizinisch gesehen ist das sogar notwendig, denn die angespannte Beinmuskulatur unterstützt die Venen dabei, das Blut wieder nach oben zum Herzen zu pumpen. Der Körper und insbesondere das Gehirn werden folglich besser durchblutet. „Damit ist konzentriertes Arbeiten länger möglich“, sagt Dieter Breithecker.

Will ein Schüler am Schreibtisch arbeiten, neigt er den Oberkörper etwas nach vorne. Sitzt er auf einem Stuhl mit beweglicher Sitzfläche, kippt diese durch die Gewichtsverlagerung um bis zu sieben Grad nach vorn. Bildlich gesprochen, sitzt das Kind leicht abschüssig. „Es entsteht ein Sitzkeileffekt“, erläutert Dieter Breithecker. „Das ist ausdrücklich erwünscht, weil ein geöffneter Sitzwinkel nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen die Haltung am besten ausbalanciert.“ Die Wirbelsäule behält ihre natürliche Krümmung bei und wird entlastet, der Oberkörper bleibt aufgerichtet, was mehr Platz für die inneren Organe schafft. Eine tiefere Atmung mit besserer Blutzirkulation und Sauerstoffversorgung wird unterstützt. „Die natürlichen Bewegungsimpulse der Kinder werden nicht mehr gebremst, sondern gefördert, und ein aktives Sitzen mit rhythmischer Be- und Entlastung des Körpers ist gewährleistet“, betont Oliver Ludwig.

Obwohl wissenschaftlich geklärt ist, dass Schulstühle mit beweglichen Sitzflächen und Lehnen gesünder als starre Stühle sind, stehen aus finanziellen Gründen in den meisten Schulen noch immer die unbeweglichen Stühle. Sie kosten nur halb so viel (rund 45 Euro) wie „Dynamikstühle“.

Professor Eduard Schmitt betont, dass auch die meisten Schultische zu wünschen übrig lassen. „Optimal sind höhenverstellbare Tische mit neigbarer Platte.“ Lässt sich der Tisch weder in der Neigung noch in der Höhe verstellen, müssen viele Kinder die Schultern hochziehen, um die Arme auflegen zu können. Zum Schreiben winkeln die Schüler ihre Arme meist weit ab und neigen den Kopf tief über den Tisch. „Eine solche Haltung führt schnell zu Muskelverspannungen vor allem im Nackenbereich“, erklärt Schmitt. In der Folge können sogar Spannungskopfschmerzen und Fehlstellungen der Halswirbelsäule auftreten. „Eine zumindest im vorderen Teil schräg- und höhenverstellbare Arbeitsplatte fördert eine aufrechte Sitzhaltung und reduziert somit die belastende Nickhaltung deutlich“, informiert Schmitt.

Sitzkissen und Sitzbälle sind keine bewährten Schulmöbel, weil sie zu einem instabilen Sitzen mit viel zu weiten Bewegungen nach allen Seiten hin führen. Schon nach kurzer Sitzdauer – fünf Minuten können bereits genug sein – treten Verspannungen in der Bein- und Rückenmuskulatur auf. Unterer Rücken, Schultergürtel und Kopfregion sind besonders betroffen. Die muskuläre Verspannung belastet zudem Wirbelsäule und Bandscheiben. Auf einem Sitzball die Balance zu halten, erfordert hohe Aufmerksamkeit und Konzentration, wodurch der Körper schnell ermüdet und eine nach vorn gekrümmte „Schonhaltung“ einnimmt.

Beim Projekt Kid-Check erforschen Orthopäden, Neurologen, Humanbiologen, Sportwissenschaftler und Physiotherapeuten der Universität des Saarlandes sowie Experten der Hochwaldklinik für Orthopädie in Weiskirchen die Ursache von Haltungsschwächen und -schäden im Kindes- und Jugendalter. Zudem entwickeln die Wissenschaftler Programme, um dem Haltungsverfall vorzubeugen und Defizite auszugleichen. Medienpartner des Kid-Check ist die Saarbrücker Zeitung.

Das Projekt im Internet: http://www.kidcheck.de

Ansprechpartner:
Dr. Oliver Ludwig: (01 70) 4 96 11 70
Prof. Dr. Eduard Schmitt: (0 68 41) 1 62 45 03,
E-Mail: oredsc@uniklinikum-saarland.de
Fotos in Druckqualität stehen Ihnen auf unserer Mediendatenbank zur Verfügung:
http://www.uni-saarland.de/mediadb/presse/PM112_Schulstuhl-Studie-Bild1.jpg
Wissenschaftler der Universität des Saarlandes und der Bundesarbeitsgemeinschaft für Haltungs- und Bewegungsförderung (Wiesbaden) haben in einer achten Klasse des Gymnasiums am Krebsberg in Neunkirchen (Saarland) untersucht, wie sich verschiedene Schulstühle auf die Konzentration und Leistungsfähigkeit der Mädchen und Jungen auswirken.
http://www.uni-saarland.de/mediadb/presse/PM112_Schulstuhl-Studie-Bild2.jpg
Mit einer medizinischen Wärmebildkamera misst Dr. Oliver Ludwig, wie sich die Oberkörper-Temperatur von Schülern verändert, wenn sie nicht auf klassischen, starren Stühlen, sondern auf Schulstühlen mit beweglicher Sitzfläche und Rückenlehne unterrichtet werden.
http://www.uni-saarland.de/mediadb/presse/PM112_Schulstuhl-Studie-Bild3.jpg
Die Wärmebildaufnahmen zeigen, dass der Oberkörper auf herkömmlichen, unbeweglichen Schulstühlen (links) weniger gut durchblutet wird als auf Dynamikstühlen mit neigbarer Sitzfläche.
http://www.uni-saarland.de/mediadb/presse/PM112_Schulstuhl-Studie-Bild4.jpg
Eine wissenschaftliche Studie des Kid-Check-Projekts an der Universität des Saarlandes belegt, dass höhenverstellbare Schulstühle mit beweglicher Sitzfläche und Lehne eine aufrechte, rückenschonende Sitzhaltung ermöglichen und eine bessere Durchblutung von Körper und Gehirn bewirken.

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Gerhild Sieber idw

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