Anfängliche Abstoßung schließt spätere Anziehung nicht aus

Übergang von einer schwachen Bindung (Physisorption) in eine starke Bindung (Chemisorption) © Dr. Ferdinand Huber

Der Philosoph Arthur Schopenhauer hat mit seiner Stachelschwein-Allegorie ein Gleichnis entwickelt, welches einen gewissen Wohlfühlabstand zwischen Menschen erklärt. Demnach fühlen sich Menschen bei zu großem Abstand allein und bei zu kleinem Abstand unwohl aufgrund abstoßender Charaktereigenschaften.

Den optimalen Abstand hat er anhand der Stachelschweine so erklärt: „An einem kalten Tag entwickelt eine Gruppe Stachelschweine ein allen gemeines Wärmebedürfnis. Um es zu befriedigen, suchen sie die gegenseitige Nähe. Doch je näher sie aneinanderrücken, desto stärker schmerzen die Stacheln der Nachbarn. Da aber das Auseinanderrücken wieder mit Frieren verbunden ist, verändern sie ihren Abstand, bis sie die erträglichste Entfernung gefunden haben.“

Der Physiker und Nobelpreisträger Richard Feynman beschreibt in seinem weit verbreiteten dreibändigen Lehrbuch „The Feynman Lectures on Physics“ gleich im ersten Kapitel ein ähnliches Phänomen beim Verhalten der elementaren Bausteine der Materie, den Atomen.

Feynman stellt fest, dass im Falle einer weltumspannenden Katastrophe, die das ganze Wissen der Menschheit vernichten würde, ein bestimmter Satz die wertvollste Information in den wenigsten Worten enthalten würde. Dieser Satz lautet: „… alle Dinge bestehen aus Atomen – kleine Teilchen die ständig in Bewegung sind, sich
anziehen, wenn sie etwas entfernt sind voneinander, sich aber abstoßen, wenn man sie aufeinander drückt“.

Für die Natur der Atombindungen hat der Physiker Lenard-Jones bereits 1932 eine wichtige Komplikation festgestellt. Es können nämlich auch zwei Bindungstypen mit verschiedenen Gleichgewichtsabständen existieren: eine schwache Bindung, genannt Physisorption und eine starke chemische Bindung, genannt Chemisorption. Erstere ist zum Beispiel für die Anhaftung von Staub auf Oberflächen oder von Geckos auf Wänden verantwortlich.

Die Zweitere ist zehn bis hundert Mal stärker als die Physisorption. Das Wechselspiel dieser Adsorptionsarten ist wichtig für den Ablauf chemischer Reaktionen auf Oberflächen, zum Beispiel bei der Abgasreinigung im Autokatalysator oder bei der katalytischen Gewinnung chemischer Grundstoffe. Die Existenz dieser beiden Adsorptionsarten wird durch eine Energiekurve mit zwei Minima dargestellt. Derartige Graphiken werden seit Jahrzehnten in den Lehrbüchern der physikalischen Chemie und Oberflächenphysik abgedruckt, obwohl sie bisher nur theoretisch postuliert waren.

Einer Gruppe experimenteller Physiker von der Universität Regensburg (Dr. Ferdinand Huber, Julian Berwanger, Prof. Dr. Franz J. Giessibl) ist es erstmals gelungen, den Übergang von der Physisorption in die Chemisorption direkt zu messen, indem sie ein Kohlenstoffmonoxid-Molekül an der Spitze ihres
Rasterkraftmikroskops befestigten, dieses an ein einzelnes Eisenatom auf einer Kupferoberfläche annäherten und die Kraftentwicklung bei der Annäherung aufzeichneten.

Unterstützt wurden sie von einem Team von Quantenchemikern (Svitlana Polyesa, Dr. Sergiy Mankovsky, Prof. Dr. Hubert Ebert) der Ludwig-Maximilians-Universität München, welche die theoretische Erklärung beisteuerten. Die Überwindung der Potentialbarriere nach der Physisorption erfordert eine sogenannte Hybridisierung, die in den quantenchemischen Rechnungen erklärt und nachgewiesen wurde.

Zurückkommend auf Schopenhauer und menschliche Beziehungen soll es dort beobachtet worden sein, dass anfängliche Abstoßung in eine innige Beziehung münden kann.

Prof. Dr. Franz Gießibl
Lehrstuhl für Experimentelle und Angewandte Physik
Universität Regensburg
Tel.: 0941 943-2105
E-Mail: franz.giessibl@ur.de

Ferdinand Huber, Julian Berwanger, Svitlana Polesya, Sergiy Mankovsky, Hubert Ebert, Franz J. Giessibl, “Chemical Bond Formation Showing a Transition from Physisorption to Chemisorption “, Science (2019).
DOI: 10.1126/science.aay3444

Media Contact

Christina Glaser idw - Informationsdienst Wissenschaft

Weitere Informationen:

http://www.uni-regensburg.de/

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Physik Astronomie

Von grundlegenden Gesetzen der Natur, ihre elementaren Bausteine und deren Wechselwirkungen, den Eigenschaften und dem Verhalten von Materie über Felder in Raum und Zeit bis hin zur Struktur von Raum und Zeit selbst.

Der innovations report bietet Ihnen hierzu interessante Berichte und Artikel, unter anderem zu den Teilbereichen: Astrophysik, Lasertechnologie, Kernphysik, Quantenphysik, Nanotechnologie, Teilchenphysik, Festkörperphysik, Mars, Venus, und Hubble.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Europaweit leistungsstärkster 7-Tesla-MRT ist in Betrieb

Universität Magdeburg übernimmt Führungsrolle in der Bildgebungsforschung. Am Mittwoch, dem 22. März 2023, wurde an der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg der europaweit leistungsstärkste 7-Tesla-Magnetresonanztomograph (MRT) feierlich eingeweiht. Im Beisein des Wissenschaftsministers des…

Synthesegas und Akku-Power mit Energie aus dem Sonnenlicht

Mithilfe der Photosynthese gewinnen Pflanzen Energie aus dem Sonnenlicht. Forschende der Technischen Universität München (TUM) haben dieses Prinzip als Grundlage genommen, um neue nachhaltige Verfahren zu entwickeln, mit denen in…

Molekulare Nanoschichten organisieren sich selbst

Die Selbstorganisation spezieller Moleküle reicht aus, um Nanoschichten gezielt wachsen zu lassen. Das hat ein Marburger Forschungsteam aus Physik und Chemie herausgefunden. Die beteiligten Wissenschaftler berichten im Wissenschaftsmagazin „Nature Communications“…

Partner & Förderer