Was Ökosysteme stabilisiert — Darmstädter Zoologen lösen ein Paradoxon der Ökologie

Schließlich ist jede Art Teil einer Nahrungskette in Räuber-Beute-Beziehungen mit anderen Arten verknüpft. Viele dieser Ketten überschneiden sich und bilden sogenannte Nahrungsnetze. An diesen Nahrungsnetzen hängt das Leben aller Lebewesen – letztendlich auch das des Menschen.

Solche und viele andere drängende ökologische Fragen versuchen Wissenschaftler seit rund 40 Jahren dadurch zu beantworten, dass sie am Computer mit Modellen solche Nahrungsnetze simulieren. Als Grundlage hierfür verwenden sie Daten, die in realistischen Artengemeinschaften aus den unterschiedlichsten Ökosystemen erhoben wurden: ob in der Arktis oder der Wüste, ob im Wasser oder an Land.

Und doch stießen die Forscher immer wieder auf dasselbe Problem: In der Simulation waren die Gemeinschaften nicht stabil. „Das war bislang das Dilemma der Ökologie, die Grunddiskussion der Biodiversität. Wir hatten eine mathematische Situation, die es in der Natur nicht gibt“, erläutert Dr. Ulrich Brose vom Institut für Zoologie der TU Darmstadt. Niemand wusste, welcher Faktor für die Stabilität der Lebensgemeinschaften verantwortlich ist. Sonja Otto aus der Forschungsgruppe um Brose hat in ihrer Doktorarbeit nun die Lösung gefunden.

Das ökologische Dilemma

Am Computer geschah bislang Folgendes: Die Forscher wählten ein Nahrungsnetz aus, zum Beispiel das der Buchenwälder mit all ihren Pflanzen und Tieren. In den Simulationen nimmt beispielsweise der Bestand der Spechte stark zu, wodurch der Bestand der baumbewohnenden Käfer zusammenbricht, von denen sich Spechte ernähren. Wenn die Spechte kein Futter mehr finden, bricht anschließend auch ihre Population zusammen.

Solche destabilisierenden Prozesse können sich durch das gesamte Nahrungsnetz fortpflanzen und zum Zusammenbruch des Systems führen. Während in Computersimulationen solche Systemzusammenbrüche die Regel waren, sind natürliche Nahrungsnetze erstaunlich stabil. Was ist nun der entscheidende Faktor, der die natürlichen Systemen vor dem Untergang bewahrt?

Die Lösung des Problems

„Wir haben einen an sich einfachen Trick angewendet“, erzählt Brose, der für seine Arbeiten zu Nahrungsnetzen im Februar den mit 50.000 Euro dotierten Adolf-Messer-Preis der gleichnamigen Stiftung erhielt. „Bislang wurden die für die Simulationen notwendigen Parameter der Räuber-Beute-Modelle, also zum Beispiel die Fraßrate oder die Atmungsrate, unabhängig und zufällig ausgewählt.

Doch Futtermenge und Atemintensität ebenso wie die Produktion eigener Biomasse, die Produktionsrate, sind an das Körpergewicht gekoppelt. Die Atmung zum Beispiel steigt mit zunehmender Körpermasse, ebenso die Produktionsrate“, so Brose, der am Institut für Zoologie eine von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderte Emmy-Noether-Gruppe leitet. „Wir haben die bislang unabhängig ausgewählten Parameter zu einem Parameter „Körpermasse“ zusammengefasst und die Stabilität der Populationen in Abhängigkeit von den Körpermassenverhältnissen der Arten untereinander untersucht.

Das Ergebnis war verblüffend. „Es stellte sich heraus, dass nur in einem klar begrenzten Körpermassen-Bereich alle Arten überleben können“, berichtet Sonja Otto, die die Ergebnisse ihrer Doktorarbeit auch in der renommierten Fachzeitschrift „nature“ präsentierte. „Wir nennen das den Stabilitätsbereich. Wird dagegen eine Art relativ zu ihren Beutearten zu klein oder auch zu groß, bricht das ganze Netzwerk zusammen.“

Die Theorie funktioniert auch in der Natur

Bei der Überprüfung der Theorie in natürlichen Artengemeinschaften stellte sich heraus, dass 97 Prozent aller Nahrungsketten in diesen Stabilitätsbereich fallen. „Das kann kein Zufall sein“, betont Brose. „Würden die untersuchten Nahrungsketten zufällig mit Körpermassen versehen, würde statistisch gesehen maximal jede fünfte von ihnen den am Computer berechneten Stabilitätsbereich abdecken.“

Doch warum befinden sich Arten, die in einem Räuber-Beute-Verhältnis stehen, mit ihren Körpermassen exakt in diesem Stabilitätsbereich? Zwei Regeln sind dafür verantwortlich. Erstens: Je größer eine Art ist, desto mehr Beutearten hat sie. Und zweitens: Je größer eine Art ist, desto weniger Räuberarten hat sie. Das sind im Prinzip die beiden Konstanten, um die die Wissenschaftler ihre mathematischen Modelle am Computer ergänzten und so den Durchbruch erzielten.

„Wenn wir in unseren Nahrungsnetzen die Interaktionen der Arten zufällig verändert haben, ist das Netz zusammengebrochen. Haben wir jedoch diese zwei altbekannten Regeln erhalten, also die Konstanten beigefügt, blieben die Artengemeinschaften stabil“, erklärt Brose. Das ist der Beweis, dass die Körpermassenverhältnisse zwischen den Populationen die so lange gesuchten Stabilitätsfaktoren sind.

Ein Schub für die ökologische Forschung

„Da wir nun auch komplexere Nahrungsnetze realistisch simulieren können – über das einfache Räuber-Beute-Verhältnis hinaus – können wir künftig auch die drängenden Fragestellungen unserer Zeit realistisch simulieren“, freut sich Brose. Zum Beispiel eben das Artensterben. „Die Folgen des Artensterbens werden damit besser vorhersagbar.“ So könnte auch geklärt werden, welches die wichtigen Arten sind, die ein Ökosystem jeweils tragen. Oder welche Auswirkungen der Temperaturanstieg im Rahmen des Klimawandels auf die Ökosysteme haben wird. Welche Konsequenzen wird die kommerzielle Fischerei für Meeres-Ökosysteme haben?

Noch können nur die Darmstädter als weltweit einzige Forschergruppe realistische, stabile Nahrungsnetze am Computer simulieren. Doch das wird sich bald ändern, ist sich Brose sicher. Das internationale Interesse an diesem methodischen Durchbruch ist schon jetzt sehr groß.

Originalpublikation:
Sonja B. Otto, Björn C. Rall, Ulrich Brose, Allometric degree distributions facilitate food-web stability, Nature 450, 1226-1230 (2007)

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Jörg Feuck idw

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