Über die Vielseitigkeiten des Schwindels: Schwindelangst und Schwindellust

Kulturwissenschaftliche Analyse in DFG-Projekt „Schwindelerfahrungen“ an der Freien Universität Berlin.

„Oft mit vegetativen Erscheinungen wie Übelkeit, Herzklopfen, Schweißausbrüchen und Erbrechen einhergehendes unangenehmes Gefühl des gestörten Körpergleichgewichts.“ So beschreibt ’Meyers großes Taschenlexikon’ den Begriff „Schwindel“ (Vertigo). Im ’Thesaurus’ finden wir unter dem selben Wort Synonyme wie: Lüge, Ausrede, Unsinn, Erfindung, Täuschung und Betrug. Wissenschaftlich betrachtet fallen Phänomene des Schwindels zunächst in den Zuständigkeitsbereich der Medizin und Psychologie sowie gegebenenfalls – wo vom Schwindel im Sinne der aktiven Täuschung die Rede ist – auch in der Rechtswissenschaft. Darüber hinaus aber scheint dem Schwindel eine allgemeine kulturelle und anthropologische Signifikanz zu eigen zu sein, deren Beschreibung und Erklärung eine interdisziplinäre Untersuchung verlangt. Aus diesem Grund werden in einer am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin angesiedelten und seit Februar 2001 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Arbeitsgruppe um Prof. Dr. Rolf-Peter Janz Schwindelerfahrungen aus kulturwissenschaftlicher Sicht untersucht. Der Analyse kultureller Zusammenhänge und insbesondere der ästhetischen Gestaltung oder Provokation von Schwindelerfahrungen in verschiedenen Künsten kommt dabei ein eigenes Gewicht zu.

Der Übergang vom Wachen zum Träumen oder von der Wirklichkeit zur Illusion wird nicht selten als „schwindelerregend“ bezeichnet; der Übergang von der Wahrheit zur Lüge wird dem verwandt Schwindel genannt. Wie es scheint, stimmen das somatische Empfinden der Irritation oder Orientierungslosigkeit und die Bedeutung des Schwindels als einer minderschweren Lüge in ihrer Qualität als Übergangs- oder Schwellenphänomen überein.

Die auf den ersten Blick eher zufällig erscheinende Doppeldeutigkeit des Schwindels (Taumel und Täuschung) lässt sich im Moment der illusionären Wahrnehmung als sachlicher Zusammenhang rekonstruieren und legt es nahe, in der schwindlerischen Produktion substantiell nicht tragfähiger Scheinwelten eine Aktivität zu vermuten, die nicht erst, wenn der Schwindel auffliegt – und auch nicht nur bei der getäuschten Person – das Auftreten von Schwindelzuständen befördert.

Schwindelerfahrungen konfrontieren uns mit den Grenzen unserer sinnlichen Orientierung. Sie stellen unsere Verfügung über das Verhältnis von Körper und Umwelt in Frage. Ein solch irritierender Angriff auf die Souveränität des Bewusstseins muss aber nicht zwingend als eine abzuwehrende Bedrohung erfahren werden. Die bewussten Provokationen des Schwindels – von den Drehspielen der Kinder bis hin zu den Überwältigungsangeboten der Event-Industrie – belegen, dass Schwindelerfahrungen auch ein lustvolles Moment bereithalten.

Gerade weil eine adäquate Koordination der Sinne misslingt, kommt es in der Schwindelerfahrung nicht selten zu illusorischen Wahrnehmungen, die als aufregende Ereignisse erlebt werden können. Dies ist beispielsweise der Fall, wenn nach einer abrupt beendeten Drehung um die eigene Körperachse die Nachbewegung der Flüssigkeit im Gleichgewichtsorgan bewirkt, dass das Drehempfinden nicht sofort endet, sondern nach dem bewegten Körper nun die umgebende Welt in Bewegung zu geraten scheint. Besonders willkommen sind solche auch mit einem anarchischen Moment versehene Attraktionen wohl als Kompensation der Erlebnisarmut einer womöglich nur scheinbar stabilisierten Normalität. Spätestens seit Nietzsche nämlich eignen sich Schwindelerfahrungen auch als Indikator der tatsächlich höchst ungesicherten und ambivalenten Verfassung des Menschen, der die fest gefügte Normalität des Bewusstseins als Selbsttäuschung erscheinen lässt.

Auch wo der Schwindel als angemessene Erfahrung der „condition humaine“, als lustvolles Erlebnis oder als Begleiterscheinung beispielsweise einer technologischen Beschleunigung affirmiert wird, signalisiert sein Auftreten dennoch das Scheitern einer kohärenten Koordination der Selbst- und Weltwahrnehmung. Die Genese dieser massiv erfahrenen Unstimmigkeit kann jeweils auf unterschiedliche somatische, psychologische und kognitive Irritationen zurückgeführt werden. Das Auftreten einiger der Momente, die in der Genese des Schwindels wirksam sein können, ist auch von kulturell variablen Umweltbedingungen beeinflusst, etwa bei der schwindelerregenden Beschleunigung des Körpers, für die u.a. die Entwicklung der Verkehrstechnik immer neue Anlässe schafft. Zu vermuten ist, dass außer medizinischen und technischen auch soziale, ästhetische und intellektuelle Bedingungen für das Auftreten von Schwindelerfahrungen mitverantwortlich sind. Dann aber liegt es nahe, das Auftauchen des Schwindels seinerseits als einen Krisenindikator zu verstehen, der nicht nur auf je individuelle, sondern eben auch auf allgemeine kulturelle Bedingungen einer Überforderung der Wahrnehmungskoordination hinweist.

Diese kulturelle Signifikanz von Schwindelerfahrungen zu prüfen, ist das Ziel des DFG-Forschungsprojekts und einer in diesem Rahmen geplanten Tagung, die am 23./24. November 2001 stattfindet. Dazu soll mit medizinischen und psychologischen Beiträgen der aktuelle Stand einer differenzierten Diagnose und möglicher Erklärungen der Symptomatik des Schwindels eingeholt werden. Zudem soll in einer Reihe von Beiträgen die Gestaltung oder Provokation von Schwindelerfahrungen in unterschiedlichen ästhetischen Medien (Film, Architektur, Tanz, Literatur, Virtual Reality) untersucht werden. Da die bewussten ästhetischen Thematisierungen von Schwindelerfahrungen von sich aus dazu tendieren, die kulturelle Signifikanz des Phänomens zu exponieren, sind von ihrer Untersuchung reichhaltige Auskünfte zu erwarten. Wenn etwa Hugo von Hofmannsthals Lord Chandos oder Rainer Maria Rilkes Malte in Schwindelzustände geraten, so weist das im Zusammenhang der literarischen Texte nicht nur auf individuelle Dispositionen der jeweiligen Protagonisten oder „natürliche“ Extremsituationen hin. Vielmehr treten intellektuelle Verunsicherungen, die u.a. von der Entwicklung der Wissenschaften induziert sind, als Bedingung einer schwindelerregenden Situation ebenso in den Blick, wie das Wahrnehmungsumfeld der modernen Großstadt oder die Störung sozialer Kommunikation.

An die ästhetischen Auseinandersetzungen mit dem Schwindel wird aber auch die Frage zu richten sein, mit welchen Mitteln Schwindelerfahrungen in den unterschiedlichen Kunstformen überhaupt sinnlich nachvollziehbar gemacht oder sogar beim Rezipienten ausgelöst werden können, und inwieweit die Darstellungsformen einzelner Medien als solche zur Erzeugung von Schwindelzuständen tendieren, wie es etwa in frühen Reaktionen auf das Kino kritisch angemerkt wurde.

Die Untersuchungen sollen im Zeitraum vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart angesiedelt sein, in dem eine beschleunigte Modernisierung auf den ersten Blick besonders zahlreiche Anlässe für Schwindelerfahrungen bereithält. Die naheliegende Vermutung, dass vor allem die viel zitierte Unübersichtlichkeit der Postmoderne als Ergebnis ökonomischer Deregulierung, technologischer Dynamisierung und fortschreitender Medialisierung der Welterfahrung zu einer massiven Ausweitung von Schwindelerfahrungen führt, soll dabei nicht ungeprüft bleiben. Zu fragen ist nämlich auch, ob die Beschwörung einer schwindelerregenden Gegenwart nicht eine Erfahrungsqualität bloß noch zitiert, deren Verschwinden in einer funktionalen Umwelt die Rede vom Schwindel zu einer gefahrlosen Metapher verblassen lässt.

Tagungstermin:
Freitag, 23. November 2001, 11.00-18.00 Uhr
Samstag, 24. November 2001, 10.00-18.30 Uhr

Tagungsort:
Clubhaus der Freien Universität Berlin, Goethestr. 49, 14163 Berlin (U-Bhf. Krumme Lanke, U1)

Weitere Informationen erteilt Ihnen gern:
Katrin D. Dapp, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin, Tel.: 030 / 838-54409, E-Mail: schwindel@germanistik.fu-berlin.de

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Ilka Seer idw

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