Gehirn ist zum Zeitpunkt der Geburt keine Tabula rasa

Mainzer Physiologen entdecken frühe Kopplung von Nervenzellen in der Großhirnrinde

Die Nervenzellen der Großhirnrinde schließen sich bereits vor der Geburt zu Netzwerken zusammen und tauschen Informationen aus. Eine Arbeitsgruppe um Univ.-Prof. Dr. Heiko J. Luhmann vom Institut für Physiologie und Pathophysiologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz konnte zeigen, dass sich die Nervenzellen früher als bisher vermutet in Säulenform anordnen und dass sie sich über elektrische Aktivität selbst organisieren. Die Arbeiten der Mainzer Wissenschaftler zur frühen Selbstorganisation der Großhirnrinde werden von Nature publiziert und vorab in einer Online-Version veröffentlicht (http://dx.doi.org/10.1038/nature04264). Sie wurden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem MAIFOR-Programm des Fachbereichs Medizin finanziell unterstützt.

Luhmann und seine Mitarbeiter Dr. Erwan Dupont, Dr. Werner Kilb, Dr. Ileana Hanganu und Dipl.-Biologin Silke Hirsch haben die Entstehung unreifer neuronaler Netzwerke an Hirnschnittpräparaten von neugeborenen Mäusen untersucht. Sie stellten fest, dass sich 20 bis 50 Nervenzellen durch oszillierende elektrische Aktivität säulenförmig aneinander koppeln. Derartige Säulen, Kolumnen genannt, stellen in der Großhirnrinde aller Säugetiere, auch des Menschen, das Grundprinzip der neuronalen Informationsverarbeitung dar. Sinnesreize aus der Umwelt werden in diesen Kolumnen seriell, d.h. der Reihe nach, verarbeitet. Horizontale Verknüpfungen zwischen benachbarten Kolumnen ermöglichen eine gleichzeitige Parallelverarbeitung. „Durch diese frühe Verbindung der Nervenzellen ist das Gehirn zum Zeitpunkt der Geburt schon darauf vorbereitet, neue Sinnesreize aufzunehmen und zu verarbeiten“, erläutert Luhmann.

Lange Zeit wurde angenommen, dass kortikale Kolumnen erst nach der Geburt entstehen und dann während sogenannter kritischer Perioden erfahrungsabhängig, d.h. durch frühe Sinneseindrücke und Lernprozesse, verändert werden. Die in Mainz erhobenen Daten zeigen jedoch, dass sich diese Module in der Großhirnrinde bereits sehr früh ausbilden und dass sie sich durch elektrische Aktivität selbst organisieren. Dabei erfolgt die frühe Kopplung von Nervenzellen in einer kortikalen Kolumne nicht wie erwartet über chemische Verbindungen, sondern über elektrische Synapsen, also direkte Zellkontakte in Form von gap junctions. Durch feine Poren in der Zellmembran können dabei zwischen zwei ganz nah beieinander liegenden Zellen Ionen wandern, es fließt also elektrischer Strom. Das Gehirn tauscht diese Form der Informationsvermittlung schon sehr schnell nach der Geburt gegen die herkömmlichen chemischen Übertragungsprozesse aus.

Da die Entwicklungsprozesse im Gehirn neugeborener Mäuse mit denen des Menschen vor der Geburt vergleichbar sind, gehen die Mainzer Neurowissenschaftler davon aus, dass beim Menschen vermutlich ähnliche Selbstorganisationsprozesse bereits vor der Geburt auftreten. Nun können diese gap junctions, also die Verbindungen, über die elektrische Signale direkt ausgetauscht werden, durch eine Vielzahl von Substanzen beeinflusst werden. Die neuen Befunde lassen daher vermuten, dass die neuronalen Selbstorganisationsprozesse beim ungeborenen Baby beispielsweise durch Narkosemittel oder Drogenmissbrauch der Mutter während der Schwangerschaft verändert werden. In Zukunft möchte die Arbeitsgruppe von Luhmann genau dieser Frage nachgehen.

Kontakt und Informationen:
Univ.-Prof. Dr. Heiko J. Luhmann
Institut für Physiologie und Pathophysiologie
Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Tel. 06131 39-26070
E-Mail: luhmann@uni-mainz.de

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Petra Giegerich idw

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