Koalition gegen den Schmerz: Leiden lindern, Ressourcen schonen

Die beiden großen Gesellschaften auf dem Gebiet der Schmerzmedizin bündeln ihre Kräfte: Das Schmerztherapeutische Kolloquium – Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie e.V. und die Deutsche Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e.V. haben die „Koalition gegen den Schmerz“ ins Leben gerufen.

Diese wird ein Aktionsprogramm starten. Es gilt, Ärzte besser in Schmerzmedizin auszubilden und Strukturen zu schaffen, um Patienten mit chronischen Schmerzen angemessen zu versorgen. Durch eine sachgerechte Information will das Bündnis vor allem das öffentliche Problembewusstsein über die Bedeutung von Prävention und Therapie chronischer Schmerzen schärfen. Das Ziel: Leiden lindern und gleichzeitig Ressourcen im Gesundheits- und Sozialsystem schonen.

Die Pein wühlt im Rücken, bohrt in Gelenken und Muskeln, pocht unter der Schädeldecke oder rast als glühender Pfeil durch den Körper. In Deutschland leidet etwa ein Drittel der Erwachsenen – 20 Millionen Menschen – an chronischen oder immer wiederkehrenden Schmerzen. Ein Drittel davon, sechs bis acht Millionen Patienten, sind stark beeinträchtigt. Dies belegt eine neue Analyse der International Association for the Study of Pain (IASP) in westlichen Industrienationen. Eine Emnid-Umfrage betätigte unlängst für Deutschland diese Zahlen.

Wenn der Schmerz seine Schutz- und Warnfunktion verloren hat und nicht ausreichend behandelt wird, kommen bei den betroffenen Menschen zu den körperlichen Qualen psychosoziale Beeinträchtigungen und weitere Folgeschäden hinzu. Lebensqualität, Leistungsfähigkeit und Lebensfreude gehen verloren. „Die Behandlung dieser Patienten“, betont Dr. med. Marianne Koch, Präsidentin der Deutschen Schmerzliga, „stellt allerhöchste Ansprüche an die Kompetenz der Ärzte.“ Defizite bei der Medizinerausbildung, im Versorgungssystem und eine ungenügende Information der Betroffenen sorgen jedoch dafür, dass „Patientenkarrieren“ von acht bis zehn Jahren sowie „Doctor-Hopping“, verbunden mit einem enormen Ressourcenverbrauch, keine Seltenheit sind. „Chronische Schmerzen verursachen so nicht nur sehr viel individuelles Leid, sondern belasten das Gesundheitswesen und die Volkswirtschaft jährlich mit vielen Milliarden Euro“, kritisiert Koch. Rückenschmerzen erzeugen beispielsweise pro Jahr Gesamtkosten von mehr als 16 Milliarden Euro, Kopfschmerzen belasten die Gesellschaft mit weiteren vier bis fünf Milliarden Euro.

„Die Schmerzmedizin muss besser in die Medizinerausbildung und in die Versorgungsstrukturen des Gesundheitswesens integriert werden“, fordern darum die Experten der beiden großen schmerzmedizinischen Gesellschaften, die sich zur „Koalition gegen den Schmerz“ zusammengeschlossen haben. Um Leiden zu lindern und Ressourcen zu schonen sind eine sachgerechte Behandlung chronischer Schmerzen nötig sowie vor allem präventive Strategien und eine effektive Information der Patienten, damit möglichst wenige Patienten auf die fatale Endstrecke der Schmerzchronifizierung geraten.

Schmerztherapie muss Pflichtfach für Mediziner werden. Doch wenn zum 1. Oktober die neue Approbationsordnung für Ärzte in Kraft tritt, werden Mediziner ihr Studium abschließen, ohne auch nur die Grundlagen der Schmerztherapie gelernt zu haben. „Für die Schmerztherapie ist die neue Approbationsordnung kein Meilenstein, sondern ein Rückschritt“, erklärt Professor Michael Zenz, Präsident der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes e. V. (DGSS). Unterricht und Prüfungen sollen in Zukunft fallbezogen durchgeführt werden. Darum müsse, so Zenz, die Schmerztherapie eigentlich ein zentraler Bestandteil der Ausbildung sein. Denn die Hälfte der Patienten kommt wegen Schmerzen zum Arzt. „Es steht aber zu befürchten, dass nach Chemotherapie und Operation kein Platz mehr für die Schmerztherapie im Studium bleibt“, so Zenz. „Defizite bei der Ausbildung führen aber zu Fehlern und Defiziten in der späteren Therapie. Millionen von Schmerzkranken werden darum auch weiterhin falsch oder nicht versorgt werden. Das verursacht viel Leid und verschleudert Milliarden.“

Die Koalition gegen den Schmerz fordert daher, die Schmerztherapie als Pflichtfach im Medizinstudium zu verankern und an den Universitäten Lehrstühle für Schmerztherapie einzurichten. Denn gut ausgebildete Ärzte gleich welcher Fachrichtung können in vielen Fällen verhindern, dass sich Schmerzen im Nervensystem einbrennen und ein „Schmerzgedächtnis“ entsteht.

Facharzt für Schmerztherapie. Um Patienten mit problematischen Schmerzzuständen behandeln zu können, von denen es in Deutschland schätzungsweise ein bis zwei Millionen gibt, bedarf es jedoch besonderer Kenntnisse. „Wir brauchen dazu den Facharzt für Schmerztherapie“, fordert Dr. Gerhard Müller-Schwefe, Präsident des Schmerztherapeutischen Kolloquiums – Deutsche Gesellschaft für Schmerztherapie e.V. für die Koalition. Bislang behandelt jeder Arzt Patienten in fortgeschrittenen Stadien der Schmerzchronifizierung nach den jeweiligen Kenntnissen seines Fachgebietes. Die Folge: Der Patient bekommt nicht das, was er als Schmerzpatient braucht, sondern das, was der jeweilige Arzt aufgrund seiner Ausbildung kennt oder für sinnvoll hält. Der Zufall der Arztwahl entscheidet wesentlich über die Therapie. Rund 2000 bis 3000 spezialisierte Einrichtungen mit Fachärzten für Algesiologie wären für eine flächendeckende Versorgung nötig. Bislang gibt es schätzungsweise nur 500 Praxen und Klinikambulanzen, die auf die Therapie von Schmerzpatienten spezialisiert sind.

Auch Patienten in Kliniken haben Schmerzen. Um auch bei einer stationären Behandlung an Kliniken in Zukunft eine ausreichende schmerzmedizinische Versorgung gewährleisten zu können, fordern die Experten außerdem, Schmerz als eigenständiges Krankheitsbild in das System der so genannten Diagnosis Related Groups (DRG) aufzunehmen. Nach dem DRG-System erhalten Kliniken in Zukunft für die Behandlung eines Patienten eine Fallpauschale, die sich nach Diagnose-bezogenen Gruppen berechnet. Schmerzdiagnosen finden sich aber nicht in den Kodier-Richtlinien. „Es gibt keine Diagnose Migräne, nicht Tumorschmerz oder Rückenschmerz, keine Phantomschmerzen“, kritisiert Zenz. Selbst Kopfschmerzen kommen nur als Symptom von Hirntumoren oder Meningitis vor. Wörtlich heißt es: „Chronischer Schmerz ist nur dann als Hauptdiagnose anzugeben, wenn die Lokalisation nicht näher bestimmt ist“. Zenz: „Diese Diagnose gilt also nur für jene Patienten, die sagen: ’Es tut weh, aber ich weiß nicht wo’.“ Andererseits gibt es Dinge wie die „prophylaktische Brustamputation wegen chronischem Schmerz“.

Auch nach Operationen ist die Schmerztherapie nicht kodierbar, sie ist in der Fallpauschale für die Operation enthalten. Damit besteht die Gefahr, dass sie nicht mehr durchgeführt wird – aus Kostengründen. Die bei Schmerzen notwendige interdisziplinäre Diagnostik und Therapie wird durch die DRG unmöglich. „Die interdisziplinäre Schmerztherapie muss in den DRGs korrekt abgebildet werden. Es wird sonst keine stationäre Schmerztherapie und Palliativmedizin mehr geben,“ erklärt Zenz.

Lückenhafte Leistungsverzeichnisse. Ein ähnliches Problem gibt es auch bei der ambulanten Versorgung: Da es ein eigenständiges Fach Algesiologie nicht gibt, finden sich in den nach Fachgebieten geordneten Leistungsverzeichnissen für gesetzlich Versicherte so gut wie keine schmerztherapeutischen Leistungen. Nur einige Anästhesie-Leistungen, etwa Nervenblockaden, sind aufgelistet. Andere wichtige Therapien fehlen: Strategien zur Schmerzbewältigung und Schmerzdistanzierung, Austestung und Einstellung starker Schmerzmittel, Entzugsbehandlung bei Fehlgebrauch von Analgetika oder Biofeedback. „Solange diese Leistungen in den Verzeichnissen fehlen, erhalten Patienten im Rahmen der kassenärztlichen Versorgung keine adäquate Schmerztherapie“, kritisiert Müller-Schwefe.

Qualitätssicherung ist für Schmerztherapeuten kein Novum. Wie keine andere medizinische Fachrichtung haben die Schmerzmedizinischen Gesellschaften schon vor vielen Jahren strenge Qualitätskriterien für die Qualifikation, entsprechende Kontrollen und eine umfangreiche Dokumentation der Behandlungsverläufe etabliert. Viele Maßnahmen, die nun im Rahmen der Gesundheitsreform vorgeschlagen werden, sind für Schmerztherapeuten schon lange selbstverständlich, um ihre Qualifikation zu erwerben und zu erhalten, beispielsweise ihre jährliche Re-Zertifizierung. Die Fachgesellschaften haben ein umfangreiches Fortbildungsangebot für Ärzte aller Fachrichtungen etabliert, was auch von einer steigenden Zahl von Medizinern wahrgenommen wird. Inzwischen wächst auch die Zahl von so genannten evidenzbasierten (wissenschaftlich begründeten) Leitlinien mit Empfehlungen, wie Ärzte Schmerzen effektiv behandeln können. „Deren Umsetzung in die Praxis voranzutreiben ist ein wichtiges Ziel der Koalition“, sagt Müller-Schwefe.

Die öffentliche Wahrnehmung im Fokus. Die Koalition gegen den Schmerz will vor allem eine bessere öffentliche Wahrnehmung des Problems chronischer Schmerz erreichen. „Chronischer Schmerz und die Probleme der betroffenen Menschen müssen in der Öffentlichkeit, bei Politikern und Medizinern als ein nationales Gesundheitsproblem wahrgenommen werden“, fordern die Experten. Um dies zu erreichen, wollen die Koalitionäre weitere Organisationen einbinden. Gespräche mit Patientenorganisationen und Krankenkassen sind beispielsweise bereits angelaufen.

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Dipl. Biol. Barbara Ritzert idw

Weitere Informationen:

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