Die vergessenen Kinder

Eine halbe Million Mädchen und Jungen haben psychisch kranke Eltern und sind gefährdet, später selbst krank zu werden – Spezialambulanz im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf will frühzeitig eingreifen und den Kindern das Schlimmste ersparen

Schon lange litt Verena B. (25, Patientennamen geändert) unter Verfolgungswahn. Sie reagierte immer wieder aggressiv auf ihre Umwelt; kein Mensch durfte ihr oder ihrem Sohn Mark zu nahe kommen. Als der Junge zwei Jahre alt war, bekam er das krankhafte Verhalten seiner Mutter hautnah zu spüren. Sie verbarrikadierte sich mit ihm in der Wohnung und wollte niemanden mehr herein lassen. Dieses Mal war alles viel schlimmer als sonst; auch gutes Zureden von Nachbarn und Angehörigen half nicht mehr. Schließlich kam die Polizei, brach die Wohnungstür auf, überwältigte die sich heftig wehrende, psychisch kranke Frau und führte sie in Handschellen ab. Mark stand daneben, hatte Angst und fühlte sich allein.

„Der Junge hat vielleicht keine ganz präzisen Erinnerungen an den Vorfall, doch ist er stark traumatisiert worden: Solche Ereignisse gehen niemals spurlos an einem Kind vorüber. Zum Glück konnte er damals gleich zu Verwandten, die ihn aufnahmen, als seine Mutter im Krankenhaus war“, erzählt die Kinder- und Jugendpsychiaterin Dr. Christiane Deneke. Als die Oberärztin am Hamburger Universitätsklinikum Eppendorf (UKE) den kleinen Mark in der „Spezialambulanz für psychisch kranke Eltern mit Säuglingen oder Kleinkindern“ kennen lernte, war er zum einen völlig verängstigt, zum anderen sehr phantasievoll. „Im Spiel verarbeitete er seine Erlebnisse. Mal musste er sich gegen Tiger und Schlangen zur Wehr setzen, mal wurden Dinosauriermütter und ihre Babys angegriffen. Er selbst war meist bis unter die Zähne bewaffnet, um seine Verfolger abzuschütteln.“

Mark gehört zu einer Gruppe Kinder, die von Experten als die vergessenen bezeichnet werden – sie bleiben mit ihren Ängsten und Nöten weitgehend auf sich gestellt. Kinder, deren Mütter oder Väter von schizophrenen Wahnvorstellungen heimgesucht werden; Kinder, deren Eltern krankhaft ängstlich, depressiv oder unberechenbar sind, deren Persönlichkeit gestört ist und die von einem Moment zum nächsten jemand ganz anderes zu sein scheinen. Die Kinder leiden mit und unter ihren Eltern und kommen dabei selbst zu kurz. Die emotionale Wärme fehlt ganz oder teilweise, ebenso das Gefühl von Geborgenheit, das Kinder so dringend benötigen. Sie verstehen ihre Eltern nicht, haben niemanden, mit dem sie sprechen können, und laufen deshalb selbst Gefahr, seelisch krank zu werden.

„Die Betreuung und psychologische Beratung dieser Kinder gehört in die öffentliche Hand“, sagt Christiane Deneke, „doch fühlt sich hier ganz offensichtlich niemand so richtig zuständig.“ So bleibt es zumeist privaten Einrichtungen, die in den vergangenen Jahren vermehrt gegründet wurden, und persönlich engagierten Ärzten, Therapeuten und Pflegekräften in klinischen Einrichtungen vorbehalten, sich um das Wohl der bis dahin vergessenen Kinder zu sorgen. Das UKE spielt hier eine Vorreiterrolle: Neben der Spezialambulanz gibt es eine Tagesklinik, in der psychisch belastete Mütter und ihre Babys aufgenommen werden. Außerdem wurde von hier aus die Gründung des Vereins „SeelenNot“ initiiert, deren Vorsitzende Deneke ist. (Bei einer Fachtagung am Mittwoch* stellen sich verschiedene Hamburger Initiativen vor, die Kinder psychisch kranker Eltern betreuen.)

Der Bedarf ist groß: Etwa jedes dreißigste Kind hat ein psychisch krankes Elternteil; beinahe eines pro Schulklasse. Bundesweit wird die Zahl der betroffenen Kinder auf eine halbe Million geschätzt – mit steigender Tendenz. Ihnen fehlt Aufmerksamkeit und Zuwendung, sie fühlen sich im Stich gelassen und sind desorientiert. Denn weil Mutter oder Vater schon mit den eigenen Problemen überlastet sind, bekommen sie von ihnen auch keine Vorgaben, was richtig oder falsch ist. „Am schlimmsten aber ist für die Kleinen, dass die Eltern nicht auf die Gefühle ihrer Kinder reagieren und sie häufig sehr, sehr einsam sind“, erläutert Dr. Deneke.

Das hat Folgen. Mindestens jedes vierte Kind, das heute stationär psychiatrisch behandelt wird, hat ein psychisch krankes Elternteil. Das Risiko, später selbst schizophren, neurotisch oder depressiv zu werden, ist um ein Vielfaches höher, wenn schon die Eltern erkrankt sind. Bis zu zwei Drittel der Kinder psychisch kranker Eltern sind hiervon betroffen. Das liegt jedoch nur zum Teil an der erblichen Vorbelastung: Viel schlimmer wirkt sich das alltägliche Chaos in der Familie und die allgemeine psychosoziale Belastung (Isolation, Armut, mangelnde Unterstützung usw.) auf das Seelenheil der Kinder aus, wie viele Risiko-Studien gezeigt haben.

Die elterliche Pein hinterlässt schon bei den jüngsten Kinderseelen Spuren. Wenn Frauen mit ihrer neuen Rolle als Mutter nicht zurechtkommen, sich überfordert fühlen und depressiv werden, geht dies oft zu Lasten der Neugeborenen. Zwar gelingt es vielen, ihren Gemütszustand aus der Mutter-Kind-Beziehung auszublenden. Doch häufig ist die Grundstimmung dem Baby gegenüber negativ, es erfährt zu wenig Hinwendung und Liebe. Deneke: „Schon bei drei Monate alten Kindern können wir Entwicklungsverzögerungen feststellen. Die Kleinen sind passiver und weniger neugierig als ihre Altersgefährten. Sie orientieren sich weniger an ihrer Umwelt und sind stärker in sich gekehrt.“ Andere Neugeborene wiederum, deren Mütter impulsiv mit der eigenen Stimmungslage und dem hilflosen Nachwuchs umgehen, reagieren sehr aufgeregt, mit viel Schreien und Weinen, Schlaf- und Essstörungen. Dies alles sind keine seltenen Phänomene: Verschiedenen Untersuchungen zufolge leiden etwa sechs bis 22 Prozent der Frauen an so genannten postnatalen Depressionen.

Einmal in Gang gesetzt, lässt sich die Spirale nur schwer stoppen. Schon zweijährige Kinder von psychisch kranken Eltern haben deutlich mehr seelische Probleme als Gleichaltrige. Dies wirkt sich später in Form sehr unterschiedlicher kinder- und jugendpsychiatrischer Auffälligkeiten wie Schulschwierigkeiten, aggressiven Schüben, Einnässen und Nägelkauen aus. Die Symptome sind oft Ausdruck schwer wiegender Störungen in den Beziehungen zu anderen Menschen und im Selbstwertgefühl.

Ziel der verschiedenen Behandlungsansätze im UKE ist es, den Bedürfnissen der Kinder gerechter zu werden und sie davor zu schützen, später selbst psychisch zu erkranken. „Besser früh betreuen als spät behandeln“ lautet denn auch das Motto von Christiane Deneke. Zunächst einmal gilt es, die Eltern von ihrem Alltagsstress zu entlasten und Hilfe für zu Hause zu organisieren. Pflegekräfte unterstützen allein erziehende Mütter im täglichen Umgang mit ihren Kindern. Sie versuchen, ihnen ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie sie die Signale ihrer Kinder frei von krankheitsbedingten Verzerrungen aufnehmen und entsprechend reagieren können. Eine Eltern-Kind-Psychotherapie sowie Paar- und Familiengespräche runden das Angebot für die Erwachsenen ab.

Kinder fühlen sich besonders in den Gesprächs- und Kontaktgruppen des vom UKE initiierten und begleiteten, vom Verein „SeelenNot“ getragenen Auryn-Projekts wohl. Auryn ist das unbesiegbar
machende Amulett aus der „unendlichen Geschichte“ von Michael Ende. In altersmäßig zueinander passenden Kleingruppen treffen sich die Sechs- bis 16-Jährigen einmal wöchentlich, um miteinander über Erlebnisse und Emotionen zu sprechen oder einfach nur unbeschwert miteinander zu spielen.

Viele Kinder erfahren hier zum ersten Mal, dass sie nicht allein mit ihren Problemen sind. Im Gespräch mit erfahrenen Kindertherapeutinnen werden ihnen altersgerechte Informationen über die Erkrankungen ihrer Eltern vermittelt. Außerdem lernen sie Strategien, die sie vor eigenen psychischen Beeinträchtigungen schützen sollen. „Die Erfahrung mit Auryn zeigt, dass die Kinder freier werden und aus ihrer Isolation heraustreten. Das stärkt ihr Selbstbewusstsein und die persönliche Entwicklung nachhaltig“, erklärt Christiane Deneke.

Auch Mark hat von den Beratungs- und Betreuungsmöglichkeiten im UKE profitiert. Musste Dr. Deneke ihn zu Beginn der Therapie zu Hause besuchen, weil seine Angst vor der Klinik zu groß war, gewann er zusehends Vertrauen. Auch seine Mutter ließ sich regelmäßig beraten. Mark ist heute, mit knapp acht Jahren, zwar noch ängstlicher als Gleichaltrige. Doch er lebt wieder mit seiner Mutter in einer eigenen Wohnung zusammen, geht zur Schule, hat Freunde – und eine gute Perspektive. Dr. Deneke: „Die frühzeitige Betreuung hat ihm sehr gut getan. Aller Voraussicht nach kann er später ein ganz normales Leben führen.“


* 28. August 2002, 9-17 Uhr, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Martinistraße 52, Hörsaal der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosoziale Medizin. Journalisten sind herzlich willkommen. Anmeldung erbeten unter Tel.: 040/42803-2215.

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Dr. Marion Schafft idw

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