Spannende Oxidkristalle

Ohne Filter würde Margitta Bernhagen nur einen gleißend hellen Fleck sehen. Auch mit Filter sind die Konturen oftmals nur zu erahnen, wenn sie den Keimkristall in die über 2000 Grad Celsius heiße Schmelze taucht.

In dieser entscheidenden Phase der Kristallzüchtung muss sie sich eher auf ihr Gefühl verlassen: die Temperatur der Schmelze muss so hoch sein, dass sie nicht sofort am Keimkristall zu erstarren beginnt, und sie muss niedrig genug sein, damit Keim und Schmelze nicht voneinander abreißen. Erst wenn Keim und Schmelze nur noch durch einen schlanken Schmelzhals verbunden sind, startet sie den Züchtungsprozess. Am Keim, der nun langsam unter Rotation hochgezogen wird, kristallisiert die Schmelze.

Dr. Reinhard Uecker vom Leibniz-Institut für Kristallzüchtung (IKZ) erklärt: „Die Kristallzüchter haben eine große Beobachtungsgabe und sehr viel Feingefühl. Unsere wissenschaftlichen Theorien würden wenig nützen, hätten wir nicht unsere kompetenten Techniker, die das Ganze dann umsetzen.“

Das IKZ ist das einzige Institut weltweit, das Seltenerdscandate züchtet (s. Kasten). Die Anordnung der Atome in diesen speziellen Oxidkristallen wird durch die sogenannte Perowskitstruktur beschrieben die in der Natur sehr häufig vorkommt. Der Grundbaustein dieser Struktur, die Elementarzelle, ist aber außergewöhnlich groß. Mit diesen Seltenerdscandaten stehen erstmals hochperfekte Substratkristalle für Perowskitschichten, wie z.B. Barium- und Strontiumtitanat zur Verfügung, die für die Herstellung elektronischer Bauelemente von großer Bedeutung sind.

Wird eine dünne kristalline Schicht auf einem Substrat abgeschieden, so wird diese Schicht umso perfekter, je ähnlicher sich die beiden Kristallstrukturen sind. Im Idealfall bestehen deshalb die Schicht und die Unterlage aus demselben Material. Andererseits ist bekannt, dass bei der Abscheidung einer dünnen kristallinen Schicht auf einem artfremden kristallinen Substrat Verspannungen in ihr entstehen, die, wenn sie ein bestimmtes Maß nicht überschreiten, die Schichteigenschaften verändern, ohne die Schicht zu zerstören.

Diese Art der Eigenschaftsmodifizierung strebte Darrell G. Schlom von der Cornell University (USA) für Barium- und Strontiumtitanatschichten an, als er sich vor einigen Jahren an das IKZ mit der Bitte um Züchtung der Seltenerdscandat-Kristalle wandte. Diese Kristalle sind als Unterlage für Barium- und Strontiumtitanatschichten besonders geeignet, da sie beiden Schichtmaterialien strukturell sehr nahestehen und außerdem auch chemisch und thermisch sehr stabil sind. Die Seltenerdscandat-Kristalle werden aus der Schmelze gezüchtet. Im IKZ wird dafür die sogenannte Czochralski-Methode eingesetzt, das ist die am weitesten verbreitete und am höchsten entwickelte Tiegelmethode zur Züchtung von Volumenkristallen. Beim Entwickeln der Züchtungstechnologie für diese Kristalle ist ihre hohe Schmelztemperatur das größte Problem. Dysprosiumscandat hat dabei mit 2000°C die niedrigste Schmelztemperatur, Praseodymscandat schmilzt bei etwa 2250°C. Dies ist die absolute Belastungsgrenze des Iridium-Schmelztiegels und diese Nähe zur Belastungsgrenze macht die Wahl der richtigen Züchtungsbedingungen zu einer großen Herausforderung. Trotzdem ermöglichte die Kombination von modernster Ausrüstung und langjähriger Erfahrung den Kristallzüchtern des IKZ, Darrell Schlom nach einigen Monaten den ersten Dysprosiumscandat-Kristall zur Verfügung zu stellen. Inzwischen werden sieben verschiedene Seltenerdscandat-Kristalle gezüchtet.

Die Größe ihrer Elementarzellen unterscheidet sich um 0,01-Ångstrom-Stufen (= 1 Pikometer). Je nach Wahl eines dieser Substrate ist die darauf abgeschiedene Schicht unterschiedlich stark verspannt. Damit wird ein Feintuning der Schichteigenschaften möglich. So ist zum Beispiel Strontiumtitanat eigentlich nicht einmal in der Nähe des absoluten Nullpunktes (-273,15°C) ferroelektrisch. Durch die Abscheidung einer Strontiumtitanatschicht auf einem Dysprosiumscandat-Substrat entstanden in der Schicht Verspannungen, die aus diesem Material ein Raumtemperatur-Ferroelektrikum machten. Damit steht ein neues, umweltfreundliches Material für die Herstellung von nichtflüchtigen Speicherbauelementen, den FRAMs, zur Verfügung, das das in der Vergangenheit überwiegend eingesetzte giftige bleihaltige Ferroelektrikum ablösen kann.

Ein ganz anderes Anwendungsbeispiel ist die Herstellung aktiver Oberflächen: Mit Titandioxid beschichtete Wand- und Bodenfliesen reinigen sich unter UV-Bestrahlung selbst, indem Verunreinigungen auf der Oberfläche oxidieren und so zerstört und letztendlich beseitigt werden.

Oxide gewinnen für die Elektronik zunehmend an Bedeutung. Auf dem jungen Gebiet der „Oxidelektronik“ startet jetzt ein großes Kooperations-Projekt des IKZ gemeinsam mit der Humboldt Universität (HU) und der University of California, Santa Barbara (UCSB), von dem sich die Wissenschaftler Materialien mit weiteren interessanten Eigenschaften erhoffen. Gefördert wird das Projekt von der DFG und der National Science Foundation (NSF) der USA. Ziel von IKZ und HU ist die Züchtung von halbleitenden Oxidkristallen in hoher Perfektion. Die kalifornischen Wissenschaftler setzen diese dann als arteigene Substratkristalle für hochperfekte Schichten mit neuen Eigenschaften ein. Die Waferherstellung aus den Substratkristallen übernimmt dabei ein langjähriger Kooperationspartner des IKZ, die Berliner Firma CrysTec GmbH. „Mit der UCSB haben wir einen hochkarätigen Partner gewonnen. Wir sind überzeugt, in diesem Projekt die Anwendungsmöglichkeiten von Oxidkristallen voranzubringen“, betont Reinhard Uecker.

Seltene Erden
„Seltene Erden“ (SE) ist ein Oberbegriff für eine Gruppe von chemischen Elementen. Entgegen ihrem Namen sind die Elemente der Seltenen Erden nicht selten. Zur Zeit ihrer Entdeckung wurden sie jedoch zuerst in seltenen Mineralien gefunden, die Elemente selbst kommen aber recht häufig in der Erdkruste vor. Als „Erden“ wurden früher Oxide bezeichnet. Als Seltenerdscandat (SEScO3) bezeichnet man die 1:1-Verbindung zwischen einem Seltenerdoxid (SE2O3) und Scandiumoxid (Sc2O3).
Ziehen nach dem Czochralski-Verfahren
Im Tiegel wird die zu kristallisierende Substanz geschmolzen. Ein kleiner Einkristall der zu züchtenden Substanz, der sogenannte Keim, wird in die Schmelze eingetaucht und langsam unter Rotation nach oben gezogen. Das erstarrende Material setzt das Kristallgitter des Keims fort und wächst so zum Einkristall. Bei den Seltenerdscandaten beträgt die Schmelztemperatur zwischen 2000 und 2400 Grad Celsius.
Kontakt:
Dr. Reinhard Uecker, uecker@ikz-berlin.de
Leibniz-Institut für Kristallzüchtung
Gesine Wiemer, Tel.: 030-6392 3338, wiemer@fv-berlin.de
Forschungsverbund Berlin
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Gesine Wiemer Forschungsverbund Berlin e.V.

Weitere Informationen:

http://www.ikz-berlin.de

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Die Materialwissenschaft bezeichnet eine Wissenschaft, die sich mit der Erforschung – d. h. der Entwicklung, der Herstellung und Verarbeitung – von Materialien und Werkstoffen beschäftigt. Biologische oder medizinische Facetten gewinnen in der modernen Ausrichtung zunehmend an Gewicht.

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