Bromiert für die Ewigkeit: Empa- und ETH-Chemiker erforschen Risiken bromierter Flammschutzmittel

In Zusammenarbeit mit der ETH Zürich entwickelten die Empa-Forscher ein Analysenverfahren, mit dem sie erstmals acht verschiedene Stereoisomere von HBCD unterscheiden und ihre Struktur bestimmen konnten. Die komplizierte Molekülgeometrie von HBCD hat Folgen: Lediglich zwei der Isomere reichern sich in Fischen an. Wie sich die HBCD-Formen sonst noch unterscheiden, müssen weitere Studien klären. Erst dann sei eine abschliessende Risikobewertung von HBCD möglich, so die Empa-Forscher.

Flammschutzmittel sind überall. Beispiel Büro: Da stehen Computer, Tisch, Stuhl und Telefon. Der Polstersessel beim Chef. Und weniger augenscheinlich, Kabelhüllen oder isolierende Schaumstoffe. Vieles, was aus Plastik ist, enthält eine Portion Flammschutz. Ohne diesen Zusatz genügt ein Funke und der Kunststoff brennt wie Zunder. Unser Alltag wäre um ein Vielfaches gefährlicher. Flammhemmer verhindern wie eingebaute Feuerlöscher, dass aus einer Unachtsamkeit eine Katastrophe wird.

Aber der Feuerschutz hat seinen Preis. Einige Flammschutzmittel stehen im Verdacht, toxisch für Mensch und Umwelt zu sein. Etwa die heute häufig verwendeten bromhaltigen (bromierten) Substanzen, die sich zwar gut ins Plastik mischen lassen, aber in verschiedenen Ökosystemen Probleme bereiten. Als POPs – „Persistant Organic Pollutants“ oder schwer abbaubare organische Umweltgifte -, die sich in der Nahrungskette anreichern und den Hormonhaushalt von Mensch und Tier durcheinander bringen, wurden beispielsweise bromierte Diphenylether im Jahr 2004 bis auf eine Ausnahme international verboten. „Aber das ist nur die Spitze des Eisbergs“, sagt der Empa-Chemiker Martin Kohler. „Von vielen heute verwendeten Chemikalien ist nicht bekannt, ob sie den Hormonhaushalt von Mensch und Tier stören.“

Bromierte Flammhemmer reichern sich in der Umwelt an

Beim Nachweis derartiger Umweltchemikalien steht die Abteilung „Analytische Chemie“ der Empa international an der Spitze. Bereits im Jahr 2003 machte das Team von Heinz Vonmont auf eine möglicherweise neue Gefahr aufmerksam: Hexabromcyclododecan, kurz HBCD. Die Forscher fanden es angereichert in Fischen aus dem Greifensee, einem Flachsee im Kanton Zürich, sowie in dessen Sediment. Aus den Sedimentschichten lasen sie ab, dass die Konzentrationen an HBCD in der Umwelt im Lauf der letzten 20 Jahre stetig angestiegen waren.

Dieser Zeitraum ist kein Zufall. HBCD ist als Flammhemmer seit 1984 im Handel. Der chemischen Zusammensetzung dieser Substanz wurde bisher wenig Beachtung geschenkt. Doch vor kurzem machten der Empa-Analytiker Norbert Heeb und sein Kollege Bernd Schweizer von der ETH Zürich eine überraschende Entdeckung: HBCD ist in Wirklichkeit ein Gemisch aus mindestens acht „Stereoisomeren“. Obwohl alle Isomere aus dem gleichen Zwölfring bestehen und die gleiche chemische Summenformel – sprich: Zusammensetzung – haben, sind sie räumlich verschieden.

Ein Name – verschiedene Formen

Erinnerungen an Lindan werden wach. Verkauft in den 60er-Jahren als Holzschutzmittel und zur Behandlung der Krätze, stellte sich später heraus, dass es ein giftiges Gemisch ist. Einzig eine Form tötet Ungeziefer. Die anderen Isomere sind wirkungslos gegen Insekten, reichern sich jedoch aufgrund ihrer geringen Abbaubarkeit in der Umwelt an und stehen im Verdacht, Krebs erregend zu sein. Auch im käuflichen HBCD-Gemisch dominieren zwei Formen, die Gamma-Isomere, stellte Heeb fest: „Bislang wissen wir nicht, ob sie harmlos oder toxisch sind.“ Als Flammschutzmittel wirken dagegen alle acht Isomere. Die flammhemmende Wirkung beruht nämlich darauf, dass Bromradikale freigesetzt werden, sobald sich der Kunststoff bedrohlich erwärmt.

Niemand weiss bislang viel über die Langzeitwirkung von HBCD in der Umwelt. Eins ist jedoch klar: Je komplexer das zu untersuchende Stoffgemisch, desto schwieriger die Risikobewertung. Im Fisch fanden die Empa-Chemiker beispielsweise nur die beiden Alpha-Formen von HBCD. Sie stehen deshalb im Verdacht, in der Umwelt besonders schwer abbaubar zu sein. „Alpha-HBCD sieht aus wie ein Donut“, erklärt Heeb mit Blick auf die dreidimensionale Struktur. „Es weist von allen Isomeren die höchste Symmetrie auf.“

Möglicherweise mit fatalen Folgen. Es gibt Studien, die zeigen, dass HBCD den Hormonhaushalt und dadurch den Stoffwechsel beeinträchtigen könnte. Auch ein schädlicher Effekt auf Nervenzellen wurde beobachtet. Mäuse, die kurz nach der Geburt mit HBCD gefüttert wurden, lernten schlechter, sich zu orientieren als ihre unbehandelten Kollegen und sie konnten sich Gelerntes kaum merken. Aber welche Form von HBCD diese Wirkungen verursacht, steht bislang nicht fest.

Selektive Wirkungen für Risikobewertung nötig

Um dies abzuklären, müssen die Isomere einzeln getestet werden. „Die bisher beobachteten Wirkungen von HBCD könnten auch von Delta- und Epsilon-HBCD ausgehen“, sagt Heeb, „also von zwei Isomeren, die weniger als ein Prozent des industriellen Produktes ausmachen.“ Falls sich zeigte, dass bestimmte Isomere toxisch sind oder sich in der Umwelt anreichern, könnten die unbedenklichen HBCD-Isomere gezielt mit stereoselektiven Syntheseverfahren hergestellt werden.

Die schwedische Chemikalienbehörde „Keml“ hat den Empa-Forschern ihre Ergebnisse förmlich aus den Händen gerissen. Die Behörde arbeitet derzeit im Auftrag der EU an der europäischen Risikoabschätzung für HBCD. Dass es sich bei der Chemikalie um ein Gemisch aus mindestens acht Formen handelt, war dort bislang nicht bekannt. Dank den Ergebnissen der Empa kann die Behörde nun mit einer selektiven Bewertung beginnen.

Auch in der Schweiz werden bromierte Flammhemmer untersucht – im Nationalen Forschungsprogramm NFP50 „Hormonaktive Substanzen“, an dem die Empa beteiligt ist. Im Fokus der Empa-Forscher stehen Untersuchungen darüber, in welchem Ausmass derartige Chemikalien in die Umwelt freigesetzt werden und wie sie Menschen, Tiere und Ökosysteme beeinflussen. Anhand der Forschungsergebnisse soll noch in diesem Jahr ein Konsens zu den Wirkungen bromierter Flammhemmer und zu den empfohlenen gesetzlichen Massnahmen gefunden werden – zwischen Forschern, Behörden und der Industrie. Dieser Konsens wird die Grundlage bilden für eine neue Einschätzung, welche Flammschutzmittel nach aktuellem Wissensstand als unbedenklich gelten und welche auf den Index gehören.

Fachliche Informationen:

Dr. Heinz Vonmont, Analytische Chemie, Tel. +41 44 823 4132, heinz.vonmont@empa.ch

Redaktion:

Dr. Sabine Borngräber, Kommunikation, Tel. +41 44 823 4916, sabine.borngraeber@empa.ch

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