EU-Forschungsprojekt XPRESS

Unter wissenschaftlicher Federführung der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft haben sich 15 Partner aus Europa, darunter drei Hochschulen, drei Forschungsinstitute und neun Industrieunternehmen, unter dem Projekttitel „XPRESS“ kein geringes Ziel gesetzt: Sie möchten die gängige Produktionstechnik im fertigenden Gewerbe revolutionieren.

Es vergeht kaum ein Tag, an dem man nicht hört, dass Produktionswerke ihren Standort in Niedriglohnländer verlagern. Dennoch werden hierzulande täglich auch viele Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe geschaffen. Doch wie passt diese gegensätzliche Entwicklung zusammen?

„Das 'Geheimnis' bei der Schaffung neuer Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe in so genannten Hochlohnländern lautet: Flexibilität, Qualität und Kundenanpassung der Produktion, basierend auf aktuellstem Prozess-Know-how und ständiger Innovation“, so Prof. Dr. Norbert Link, Informatikprofessor an der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft, wissenschaftlicher Direktor des hochschuleigenen Instituts für Angewandte Forschung und Projektleiter von XPRESS auf Seiten der Hochschule.

15 Partner aus ganz Europa, darunter so prominente Unternehmen wie Airbus, Fiat und Kuka Systems, Software-Unternehmen aus Kopenhagen, Budapest und Coimbra (Portugal), Gerätehersteller aus Hamburg und Lyon, Hochschulinstitute aus Oulu (Finnland), Porto (Portugal), Gliwice (Polen) und Karlsruhe sowie zwei Fraunhofer-Institute aus Stuttgart und Magdeburg arbeiten im Projekt XPRESS nun daran, Innovationsfähigkeit und Flexibilität in Form von selbstkontrollierenden und selbstlernenden Systeme direkt in die Produktionstechnik zu implementieren – was die bisherige Produktionspraxis grundlegend ändern würde.

Die EU-Kommission hat das Vorhaben als „Europäisches Flagschiff-Projekt“ ausgewählt und unterstützt es mit 8 Millionen Euro, das Gesamtbudget beläuft sich auf 12,5 Millionen Euro, die Projektidee stammt von Prof. Dr. Norbert Link und dem Informatiker Michael Peschl von Harms+Wende, einem Unternehmen für Schweißsysteme und Automatisierungstechnik.

Worin besteht nun die grundlegend neue Idee?
Prof. Dr. Norbert Link verdeutlicht dies am Beispiel eines Chirurgie-Teams. „Kein Patient ist wie der andere, jeder Fall anders gelagert“, so der Karlsruher Forscher und Informatikprofessor, „aber ist es deswegen sinnvoll, für jeden erdenklichen Fall eine detaillierte Anleitung zu schreiben und dann angelernte Hilfskräfte am Patienten arbeiten zu lassen? Sicherlich nicht. Wir verlassen uns lieber darauf, dass wir von einem Team von Spezialisten behandelt werden, von denen jeder auf dem neuesten Stand seines Spezialgebietes ist und genau weiß, was zu tun ist. Aufgrund seines Wissens und seiner Erfahrung kann er auch richtig reagieren, wenn etwas Unvorhergesehenes auftritt.“

Doch die heutigen Produktionsschemata funktionieren anders. Für jede Variante eines Produkts müssen Maschinen neu programmiert und parametriert werden, für die Produktionsmitarbeiter müssen jeweils exakte Arbeitsanweisungen erstellt werden. „Flexibilität lässt sich so nicht erreichen“, so Prof. Dr. Norbert Link, „und auch Innovationen lassen sich in den laufenden Betrieb so nicht einbringen.“

Aus diesem Grund haben Norbert Link und Michael Peschl die so genannten „Expertonen“ entwickelt: Produktionseinheiten, die für einen ganz bestimmten Aufgabenbereich wie beispielsweise einen Schweißvorgang zuständig sind und sich damit hervorragend auskennen. Ihnen genügt es, wenn sie eine Beschreibung erhalten, was sie tun sollen – sie wissen selbst, wie sie den 'Job' optimal (schnell und Ressourcen sparend) erledigen können. Nach der Prozessdurchführung wird noch die erreichte Qualität gemessen und dann zur nächsten Aufgabe übergegangen, die durchaus ganz anders sein kann (andere Variante, anders Modell etc.). Doch damit nicht genug: Das Experton beobachtet die Prozessdaten und zieht daraus Schlüsse, wie die Aufgabe zukünftig noch besser erledigt werden kann. Dieses neue Wissen meldet das Experton einer zentralen Wissensbasis (Zentralrechner), an der auch alle anderen Expertonen des gleichen Typs angeschlossen sind.

Wird eine Aufgabe gestellt, die das Experton noch nicht kennt, kann es eine Lösung von der zentralen Wissensbasis erfragen, wo das Wissen aller Expertonen abrufbar ist. Muss auch sie passen, initiiert sie eine Prozesssimulation, mit der eine neue Methode errechnet wird. Diese wird dann eingesetzt und im Betrieb verbessert. So bildet das Expertonen-Netzwerk eine Quelle ständiger Prozess-Innovation.

Keineswegs ist das nur graue Theorie. Seit einem Jahr arbeiten die Wissenschaftler an der Realisierung dieser Vision und bei einem Treffen der Projektbeteiligten im Dezember 2007 in Turin konnte vom Team der Hochschule Karlsruhe bereits ein Funktionsmuster für die Kooperation eines Produktionsmitarbeiters mit einem Schweißautomaten vorgeführt werden, an dem nun weiter getestet und entwickelt wird. Auf einem Bildschirm wird dem Mitarbeiter zunächst die Aufgabe eingeblendet wie beispielsweise verschiedene Schweißpunkte an bestimmten Positionen einer Fahrzeugtür zu setzen. Eingeblendet werden die Zielkoordinaten an der Tür und die Position seiner Schweißzange, die über optische und Bewegungssensoren an das System übermittelt werden. Erreicht er eine der Zielpositionen in der angegebenen Toleranz und er hält die Schweißzange ruhig genug, erscheint auf dem Bildschirm ein grünes Feld, so dass er den Schweißpunkt setzen kann. Und nur in diesem Fall wird die Schweißzange mit Strom versorgt. Dieses Arbeitsprinzip sorgt also für eine Minimierung der Ausschussproduktion.

Verändert der Mitarbeiter nun sein Verhalten, beispielsweise seine Position oder die Reihenfolge der Schweißpunkte etc., wird dies auch vom System erfasst. Führt seine Verhaltensänderung zu einer Optimierung des Produktionsprozesses wird dieses Prozesswissen über die zentrale Wissensbasis allen anderen angeschlossenen Expertonen zur Verfügung gestellt. Dadurch entsteht also ein selbstlernendes und sich selbst optimierendes Produktionssystem.

Selbstverständlich lässt sich nun fragen, wo dabei die Menschen bleiben. „Die Antwort lautet“, so Prof. Dr. Norbert Link, „sie werden als Meister mit ihrer Kreativität den Expertonen zu Innovationssprüngen verhelfen und sich als Kollegen durch kompetente Anleitung und Hilfe am expertonischen Arbeitsplatz über recht abwechslungsreiche Tätigkeiten freuen.“

Bei Projektende im Jahr 2010 sollen Expertonen als reale Demonstrationseinrichtungen im Flugzeug-, Automobil- und Elektrogerätebau ihre neuen Fähigkeiten zeigen. „Dann werden wir sehen“, so der Karlsruher Forscher und Professor an der Hochschule Karlsruhe – Technik und Wirtschaft, „ob wir in der Produktionstechnik tatsächlich Einiges grundlegend verbessern können und damit Hochlohnländern innovative Arbeitsplätze sichern und schaffen können.“

„Der Ausbau der praxisorientierten Forschung ist ein zentrales strategisches Ziel unserer Hochschule“, so Rektor Prof. Dr. Karl-Heinz Meisel, „und dieses Projekt ist geradezu ein Paradebeispiel für die Bedeutung und Relevanz solcher Forschungsansätze. Von solchen Projekten profitieren auch unsere Studierenden in hohem Maße, da solche praxisrelevanten Fragestellungen und Forschungsresultate in die Lehre einfließen und so für größtmöglichste Aktualität und ausgeprägte Praxisbezüge sorgen.“

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Holger Gust idw

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