Wissen ist kein Garant für Akzeptanz

Selbsteinschätzung des Wissensstands der Bürgergruppe (BG) und der Vergleichsgruppe (VG) zur Gendiagnostik vor bzw. nach der Bürgerkonferenz (BK).

Erste Bürgerkonferenz in Deutschland / „Streitfall Gendiagnostik“ / Nach Wissen kommt Ablehnung

Im Herbst des Jahres 2001 fand im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden die erste deutsche Bürgerkonferenz statt. Das Thema lautete: „Streitfall Gendiagnostik“. 19 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger setzten sich drei Wochenenden lang intensiv mit der komplexen wie umstrittenen Thematik der genetischen Diagnostik auseinander und gaben am Ende des Verfahrens eine differenzierte Stellungnahme dazu ab.

Eine Untersuchung des Fraunhofer-Instituts für Systemtechnik und Innovationsforschung ISI, Karlsruhe, zeigt nun, dass die Bürgerkonferenz zwar ein geeignetes Instrument zur Wissensaneignung und Meinungsbildung ist. „Es gibt jedoch keine Einbahnstraße von einem Mehr an Wissen zu einer größeren Akzeptanz“, stellt Dr. René Zimmer, Projektleiter am Fraunhofer ISI, in seiner Untersuchung fest. „Vielmehr führte die Wissensaneignung zum Herausbilden einer differenzierten Meinung, die deutlich kritischer ausfiel als die vor dem Verfahren geäußerte“, so Zimmer weiter.

Der Bürgerkonferenz ging ein umfangreicher Auswahlprozess voran. In allen deutschen Bundesländern wurden rund 10.000 zufällig ausgewählte Personen angeschrieben. Auf dieses Schreiben meldeten sich gut 300 Bürgerinnen und Bürger, aus denen 19 Personen nach Geschlecht, Alter und Berufsgruppe ausgelost wurden, wobei Schüler, Student, Arbeitslose, Hausfrauen und Rentner gleichermaßen berücksichtigt wurden.

Die Erwartungen der Bürgerinnen und Bürger an einen Wissenszuwachs waren sehr hoch. Im Ergebnis konnten die Informationsdefizite in der Bürgergruppe auch abgebaut und die von Experten besetzte Diskussionskultur durch einen qualifizierten Beitrag einer Gruppe von Laien ergänzt werden. Durch viele intensive Gespräche trugen die Beteiligten das Thema zudem in den Familien- und Bekanntenkreis und unterstützen so den Prozess der Aufklärung und Demokratisierung der Gesellschaft „von unten“.

Die Bürgergruppe bildete sich ebenso zwischen den Wochenenden weiter. Wichtigste Informationsquellen waren neben den Materialien, die die Organisatoren bereitgestellt hatten, das Fernsehen und Zeitungen, gefolgt von Sachbüchern und dem Internet. Den Erfolg zeigen folgende Zahlen: Vor der Bürgerkonferenz schätzten nur ca. 16 Prozent der Bürgerinnen und Bürger ihr Wissen zur Gendiagnostik als hoch ein. Nach der Bürgerkonferenz waren es 63 Prozent.

Insgesamt überwog zunächst eine befürwortende Haltung zu dieser Technik. Nach der Bürgerkonferenz zeigte sich aber ein anderes Bild: Die Zahl der Befürworter hatte sich mehr als halbiert und die Zahl der Bürgerinnen und Bürger mit ablehnender Haltung überstieg die Zahl der Befürworter um das Doppelte. Sowohl der Vergleich vor und nach der Bürgerkonferenz als auch der Vergleich mit einer Vergleichsgruppe zeigt, dass die Meinung vor allem gegenüber der Präimplantationsdiagnostik (PID) als auch gegenüber der pränatalen Diagnostik (PND) deutlich ablehnender wurde.

Die Studie des Fraunhofer ISI zeigt ferner, dass es bei den Bürgerinnen und Bürgern zu differenzierten Meinungsbildungsprozessen gekommen ist. Die Laien, die sich vor dem Verfahren noch keine klare Meinung zur Gendiagnostik gebildet hatten, durchliefen während des Verfahrens einen Abwägungsprozess, in dem sie die Thematik in ihren verschiedenen Facetten beleuchteten.

Während des Abschlusswochenendes verfassten die Bürgerinnen und Bürger ein differenziertes und klar strukturierten Votum. Die Laien bezogen in diesem Papier zur ganzen Breite der genetischen Diagnostik Stellung sowie zur Forschung an menschlichen Stammzellen.

Das Bürgervotum brachte zwar keine neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse. Es betrachtet das bekannte Wissen aber aus Sicht der betroffenen Bevölkerungsgruppen: schwangere Frauen, Frauen mit Kinderwunsch, Menschen mit genetisch bedingten Behinderungen oder anderweitig Behinderte. Die Qualität des Votums wurde vom überwiegenden Teil der Sachverständigen und von den Politikerinnen und Politikern bestätigt.

Die Methodik der Bürgerkonferenz orientiert sich am Vorbild der dänischen Konsensuskonferenzen. Bei Konsensuskonferenzen handelt es sich um Formen der partizipativen Technikfolgenabschätzung. In ihrem Mittelpunkt stehen Laien, deren Aufgabe die Bewertung eines aktuellen naturwissenschaftlich-technischen Themas ist. Nach eingehender Vorbereitung befragen die Bürgerinnen und Bürger auf einer Konferenz Experten ausführlich zum Thema und erstellen dann einen Schlussbericht.

Das Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung ISI erweitert das naturwissenschaftlich-technisch orientierte Fachspektrum der Fraunhofer-Gesellschaft um wirtschafts- und gesellschaftspolitische Aspekte. Dazu analysiert es technische Entwicklungen sowie deren Marktpotenziale und Auswirkungen auf Wirtschaft, Staat und Gesellschaft. Die interdisziplinär zusammengesetzten Teams des Instituts konzentrieren sich insbesondere auf die Bereiche Energie, Umwelt, Produktion, Kommunikation und Biotechnologie sowie auf die Regionalforschung und Innovationspolitik.

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