Wider das spurlose Verschwinden
Programm der VolkswagenStiftung “Dokumentation bedrohter Sprachen” läuft mit großem Erfolg – eine kurze Bestandsaufnahme anlässlich des Tages der bedrohten Sprachen der Welt am 26. September 2001
Immer mehr Sprachen sind vom Aussterben bedroht. Die dramatische Entwicklung beginnt zum Beispiel damit, dass in einem Dorf der erste Fernseher aufgestellt wird. Oder mit dem Bau einer Autobahn, die die bislang abgelegene Siedlung plötzlich mit der nächsten Großstadt Hunderte von Kilometern entfernt verbindet. Spätestens mit der Einbindung in größere Kommunikationskreise setzt heutzutage die Bedrohung einer “kleinen” Sprache ein.
Rund zwei Drittel der derzeit weltweit gesprochenen 6500 Sprachen laufen Gefahr, in den nächsten ein bis zwei Generationen auszusterben. Die Sprache sinkt zunächst zur “Haussprache” hinab, wird dann von den Eltern nicht mehr an die Kinder weitergegeben – und schließlich tragen bei traditionellen Festen nur noch die Alten ihre Gesänge und Geschichten vor, die von der Gemeinschaft nicht mehr verstanden werden. Das Programm “Dokumentation bedrohter Sprachen”, in dem die VolkswagenStiftung zwischenzeitlich erste Bewilligungen in Höhe von rund 3,5 Millionen Mark ausgesprochen hat, kann diese Entwicklung im Zuge der “kulturellen Globalisierung” natürlich nicht aufhalten. Es kann und soll jedoch versucht werden, die Zeugnisse dieser meist nur mündlich vermittelten Sprachkulturen vor ihrem spurlosen Verschwinden in einem elektronischen Archiv für bedrohte Sprachen aufzeichnen zu lassen: mit Tonband, Videokamera, Fotoapparat und Notizblock.
Die Fäden – insbesondere in technischer und archivarischer Hinsicht – der bewilligten und künftigen Vorhaben in dem Programm laufen zusammen im Max-Planck-Institut für Psycholinguistik im holländischen Nijmegen. Wissenschaftler dort beraten beim Kauf von Geräten, stellen Tools bereit für die elektronische Aufarbeitung der Video-, Audio- und Textdaten und sorgen für die dauerhafte Aufbewahrung der Aufnahmen in einem virtuellen Archiv für bedrohte Sprachen. Allein diesem zentralen Vorhaben mit dem Titel “TIDEL – Tools and Infrastructure for the Documentation of Endangered Languages” stellte die Stiftung über zwei Millionen Mark zur Verfügung.
Bei der Auswahl der einzelnen zu dokumentierenden Sprachen war es in der Startphase des Programms das Ziel, möglichst alle Regionen der Welt zu berücksichtigen, die sich durch eine große Sprachenvielfalt auszeichnen.
So wird im südlichen Zentralsibirien mit dem Tofa eine Sprache dokumentiert, die nur noch rund 300 Menschen in einer kargen Hochgebirgsregion sprechen. Seitdem diese Bevölkerungsgruppe in den dreißiger Jahren unter Stalin zur Sesshaftigkeit gezwungen wurde, gingen Sprachverschiebung, kultureller Verlust und Russifizierung Hand in Hand. Aufgezeichnet und bearbeitet werden nicht nur Erzählungen und Gespräche, sondern zum Beispiel auch Gesänge, mit denen dieses Hirtenvolk seine Rentiere beruhigt.
Zur Dokumentation des Salar und des Monguor aus dem “Sprachbund” des Amdo-Tibet-Gebietes kooperieren chinesische Wissenschaftler mit Kollegen in Mainz und Kansas. Beide Sprachen, obwohl rein zahlenmäßig noch von ein paar Tausenden gesprochen, werden vom Chinesischen beziehungsweise Tibetanischen verdrängt, sodass sich echte Sprachkompetenz nur noch bei den Frauen der älteren und ältesten Generation findet. Aus den zahlreichen sehr bedrohten Sprachen Afrikas – der Schwarze Kontinent hat linguis-tisch gesehen große weiße Flecken – wird in der Pilotphase des Programms das Ega dokumentiert. Gesprochen wird es an der Elfenbeinküste, und zwar von ein paar hundert Menschen in einer Art linguistischer Enklave: Denn das Ega gehört zu den so genannten Kwa-Sprachen, die inmitten eines Gebietes von Kru-Sprachen gesprochen werden. Dass Heiraten hier nicht innerhalb des Stammes üblich ist, verstärkt noch die Bedrohung der Sprache.
Je reicher eine Region an Sprachen ist, desto größer ist die Gefahr, dass einzelne aussterben. Diese Regel gilt auch für die linguistisch sehr interessante Region Papua-Neuguineas, wo sich immer mehr Pidginsprachen gegen die vielen kleinen Sprachen durchsetzen. Zielsprache dieser Region ist zunächst das Teop, das auf der Insel Bougainville gesprochen wird – oder besser: bald nur noch gesprochen wurde. Denn speziell in zweisprachigen Familien wird das Teop nicht mehr den Kindern weitergegeben. Noch weiter fortgeschritten ist der Sterbeprozess bei der Indianersprache Wichita in Nordamerika, die heute nur noch von zehn älteren Männern gesprochen wird. Wichita ist linguistisch bemerkenswert, da es sich um eine polysynthetische Sprache handelt, die syntaktische wie semantische Zusammenhänge durch Flexionen des Verbs ausdrückt. Andere Wortklassen, etwa Präpositionen, gibt es so gut wie nicht. Für die weite Region Südamerikas bewilligte die Stiftung einen Kooperationsverbund zur Dokumentation der drei brasilianischen Indianersprachen Aweti, Trumai und Kuikuro. Diese drei Sprachen, die von unterschiedlichen Sprachfamilien abstammen, werden heute quasi “nebeneinander” im Reservat Parque Indigeno do Xingu gesprochen. Doch so wenig sie miteinander verwandt sind, so sehr haben sich die kulturellen Ausprägungen der drei Sprachgemeinschaften angeglichen.
Inzwischen ist die Hauptphase des Programms angelaufen. Im März 2002 – wir informieren Sie zeitnah – wird die Stiftung dazu Entscheidungen fällen. Weitere bedrohte Sprachen werden dann dokumentiert und so für das “kulturelle Gedächtnis der Welt” bewahrt. Ein neues Archiv ist im Entstehen, und wer Interesse hat, kann den Aufbau verfolgen.
Kontakt VolkswagenStiftung, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Christian Jung, Tel.: 0511/8381-380, E-Mail: jung@volkswagenstiftung.de
Kontakt Förderinitiative VolkswagenStiftung, Dr. Vera Szöllösi-Brenig, Tel.: 0511/8381-218, E-Mail: szoelloesi@volkswagenstiftung.de
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