Planungshilfen aus der Zukunft

Beherrschbarer Wind- und Sonnenstrom: Eine Siemens-Software auf Basis neuronaler Netze sagt Stromerzeugung und –Verbrauch präzise voraus.

Früher war alles einfach: Im Land verteilten sich Kraftwerke, deren Betrieb sich an der Stromnachfrage orientierte. Den Bedarf der Regionen und Großbetriebe für die nächsten Tage prognostizierten die Stromversorger unter anderem anhand von Kalendern und Wettervorhersagen.

Heute ist die Lage komplizierter: Wind- und Solarparks produzieren je nach Wetter viel oder wenig elektrischen Strom. Konventionelle Kraftwerke müssen diese Schwankungen dann ausgleichen. Je höher der Anteil fluktuierender erneuerbarer Energien wird, desto unbeherrschbarer scheint die Stromversorgung zu werden. Das gilt nicht nur für die Stromerzeuger, sondern auch für die Netzbetreiber.

Herausforderung Erneuerbare

Damit das Netz stabil bleibt, muss zu jedem Zeitpunkt genauso viel Strom eingespeist werden, wie entnommen wird. Fällt ein Kraftwerk oder ein großer Verbraucher aus, wird die Energiezufuhr entsprechend hochgefahren oder gedrosselt, um Blackouts zu vermeiden. Jedes Kraftwerk ist verpflichtet, eine gewisse Menge dieser positiven und negativen Regelleistung bereitzustellen. Gerade im Energiewendeland Deutschland, das seinen Anteil erneuerbarer Energien am Strommix kräftig erhöhen will, wird es künftig schwerer, das Netz in Balance zu halten.

Vorhersagen für den stabilen Strommarkt

Wie also mit dieser neuen Situation umgehen? Wie das Stromnetz stabil halten, alle Teilnehmer sicher versorgen und trotzdem wirtschaftlich arbeiten? „Bessere Planbarkeit durch gute Prognosen“, lautet die Antwort von Dr. Ralph Grothmann, Forscher bei Siemens Corporate Technology (CT). „Wenn man wüsste, wie viel Solar- und Windenergie die nächsten Tage bereit steht und regionale Bedarfsprognosen hätte, dann könnte man konventionelle Kraftwerke vorausschauend steuern, Ausgleichsenergien für Verluste beim Stromtransport planen und sich dafür an der Börse Kontingente zu günstigen Konditionen sichern“.

Grothmann und sein Kollege Dr. Hans- Georg Zimmermann sind quasi Prognostiker von Beruf: Sie entwickelten die Progonose-Software SENN (Simulation Environment for Neural Networks). SENN basiert auf neuronalen Netzen, das sind Computermodelle, die ähnlich arbeiten wie ein menschliches Gehirn. Sie lernen durch Training, Zusammenhänge zu erkennen und so Vorhersagen zu treffen. „Der Charme eines neuronalen Netzwerks ist, dass man das Problem nicht vollständig analytisch verstehen muss, um eine Prognose zu treffen“, erklärt Grothmann. Um zum Beispiel einen Solarpark mit einem analytischen Modell abzubilden, müsste man berechnen, wie viel Strom ein Photovoltaik-Modul bei welcher Sonneneinstrahlung und anderen Umweltbedingungen wie Temperatur, Windgeschwindigkeit oder Luftfeuchte erzeugt. Schatten sich einzelne Module gegenseitig ab, muss dies rechnerisch berücksichtigt werden. Dann kann das Modell aus Wettervorhersagen für genau diesen Ort die Leistung des Solarparks prognostizieren.

Training mit Daten

Mit neuronalen Netzen geht man grundlegend anders vor: Man trainiert sie mit Daten aus der Vergangenheit – in diesem Fall mit Wettervorhersagen für frühere Zeiträume und der Stromproduktion des Solarparks für die gleiche Zeit. Die Wetterdaten müssen nicht genau für den Ort des Solarparks vorliegen, sondern können von einer Wetterstation in der Umgebung stammen. Das Programm hat die Aufgabe, aus den Wetterdaten die erwartete Sonnenstrommenge vorherzusagen. Zu Beginn weiß es nicht, welcher Parameter sich wie auswirkt, und seine Prognose weicht entsprechend stark von der Strommenge ab, die der Solarpark tatsächlich produziert hat. Im Training minimiert das Programm in Tausenden Iterationen die Differenz zwischen seiner Prognose und dem Ist-Wert. Es ändert die Gewichtung der einzelnen Parameter und wird immer genauer.

SENN wurde vor gut 20 Jahren als Prognose-Technologie für verschiedenste Fragestellungen entwickelt und dient heute unter anderem zur Vorhersage verschiedener Rohstoffpreise. Das Programm prognostiziert zum Beispiel den Strompreis für die nächsten 20 Tage und sagt in zwei von drei Fällen den besten Einkaufstag voraus. Seit 2005 nutzt Siemens die Methode, um zum günstigsten Zeitpunkt Strom einzukaufen.

Mit dem Boom der erneuerbaren Energien erkannte man das Potenzial von SENN-Prognosen auch für die Energiewirtschaft. Netzbetreiber können anhand der Vorhersagen für die Einspeisemengen von erneuerbarem Strom den Einsatz zusätzlicher Kraftwerke oder den Bedarf an Regelenergie planen. Die Betreiber der Wind- und Solarparks können die Prognosen nutzen, um Wartungsarbeiten in Zeiten mit weniger Ertrag zu legen, erwartete Strommengen zu günstigeren Konditionen zu verkaufen oder um ihre künftigen Einnahmen zu planen.

Ein äußerst präzises Ergebnis

An Daten eines großen Offshore-Windparks in Dänemark wird derzeit ein SENN-Modell getestet. Es prognostiziert anhand der Vorhersagen für Windgeschwindigkeit, Temperatur und Luftfeuchte die Stromproduktion des Parks für die nächsten drei Tage auf bis zu 7,2 Prozent genau. Bei einer Vorhersage von 100 würde also der tatsächliche Wert zwischen 92,8 und 107,2 liegen. „Die Prognosegüte hängt in erster Linie an der Qualität der Daten“, erklärt Grothmann. „Das Wetter wissen wir zum Beispiel für drei Tage im Voraus hinreichend genau.“

Siemens Energy bietet SENN-Produktionsprognosen im Rahmen seiner Lösungen zur Steuerung und Überwachung erneuerbarer Kraftwerke an. In Südafrika ist die Software bereits in zwei großen Solarparks mit je 50 Megawatt Leistung im Einsatz. Die Betreiber erfüllen damit die Forderung der Netzbetreiber, Prognosen für die Stromeinspeisung bereitzustellen. SENN sagt hier die Stromproduktion für jede Sonnenstunde der nächsten fünf Tage auf etwa sieben Prozent genau vorher.

Mittlerweile ist ein zweites Modell für Solarparks geplant, das Entscheidungshilfen bei Verschmutzungen liefern soll. Verschmutzte Solarpanele können die Stromerzeugung um bis zu 15 Prozent schmälern, aber ein Putzeinsatz kostet ebenfalls Geld. „Wüsste man, dass es in den nächsten Tagen stark genug regnet, müsste man keinen Putztrupp losschicken“, erklärt Grothmann. Die neue Software wird genau diese Frage beantworten, indem sie aufgrund von Umweltbedingungen wie Trockenheit, Wind oder Regen vorhersagt, wie sich die Verschmutzung entwickelt.

Bedarf prognostizieren

Verbrauchsprognosen sind die zweite wichtige SENN-Anwendung im Energiemarkt. Großverbraucher können damit Strom zu günstigen Konditionen einkaufen oder ihre Arbeiten so planen, dass sie Lastspitzen, für die teure Strafen fällig werden, vermeiden. Energieversorger können anhand regionaler Vorhersagen Stromkäufe oder Kraftwerkseinsätze planen. Schon heute nutzt der Schweizer Netzbetreiber Swissgrid SENN zur Planung von Stromeinkäufen. Die Schweiz ist ein wichtiges Transitland für Strom, etwa von Deutschland oder Frankreich nach Italien. Auf jedem Kilometer entlang der Stromleitung geht ein kleiner Teil des Stroms verloren. Swissgrid muss diesen Verlust ausgleichen und kauft hierfür jeweils bis zu 36 Stunden im Voraus am Spotmarkt ein. Die Kosten: etwa 48 Millionen Euro im Jahr.

Bisher schätzte Swissgrid den Bedarf anhand von Kalender- und Wetterdaten und Informationen der Netzbetreiber in den Nachbarländern ab. SENN konnte den Prognosefehler von elf auf zehn Prozent senken und Swissgrid so mehrere 100.000 Franken im Jahr sparen. SENN erstellt sehr genaue Verbrauchsprognosen mit nur drei Prozent Fehler und prognostiziert daraus direkt die Übertragungsverluste. Das Modell betrachtet hierzu die stündliche Entwicklung des Verbrauchs der Region, an die der Strom übertragen wird, sowie die aktuellen Lastflüsse, die Energieerzeugung aus erneuerbaren Quellen, Wetterprognosen und den Wasserstand von Pumpspeicherkraftwerken.

Ganzheitlich denken

Für einen künftigen Energiemarkt, in dem praktisch alle Akteure – Produktion, Nachfrage, Preis, und Transport – in Bewegung sind, sind solche Einzelprognosen ein erster Schritt. Im gesamten System hängen jedoch alle Größen voneinander ab und sollten ganzheitlich betrachtet werden – der Energiemarkt der Zukunft ähnelt daher einem ausbalancierten Mobile: Steigt zum Beispiel die Windproduktion, müssen konventionelle Kraftwerke umsteuern. Eventuell sinkt dabei auch der Strompreis. Je nach Nachfrage wird der Wind in den Süden transportiert oder im Norden verteilt. Dadurch verändern sich wiederum die Bedarfe für Regelenergie und für den Ausgleich von Transportverlusten. „Je besser man diese Parameter in ihrer Interaktion vorhersagen kann, desto effizienter wird man“, betont Ralph Grothmann.

Hier punktet das neuronale Netz: Weil es nicht auf analytischen Beziehungen beruht, sondern direkt aus dem Verhalten aller Parameter Zusammenhänge lernt, beinhaltet seine Prognose bereits gegenseitige Abhängigkeiten. „Bei SENN nutzen wir diese Fähigkeit, indem wir zum Beispiel den Strompreis aus vielen interagierenden Parametern wie dem Preisverlauf für Strom sowie für andere Rohstoffe, der Verbrauchsentwicklung oder den Kosten für CO2-Emissionszertifikate ermitteln. Dies ist sicherlich ein Alleinstellungsmerkmal unserer Software“, erklärt Grothmann.

Ein Energieerzeuger mit mehreren Kraftwerken könnte SENN schon heute nutzen, um Gas günstig einzukaufen und gleichzeitig seine Produktion an Prognosen für den Strompreis und für den Preis für CO2-Zertifikate optimal auszurichten. Künftig könnte ihm der Netzbetreiber Vorhersagen über den erwarteten Verbrauch und die benötigte Regelenergie liefern, die er wiederum anhand von Produktions- und Verbrauchsprognosen anderer Partner ermittelt hat. So würde das Mobile Energiemarkt, bei dessen Bewegungen manchem heute schwindlig wird, beherrschbar, weil jeder Akteur sich im Voraus auf die Entwicklung der anderen Teilnehmer einstellen könnte.

Christine Rüth

https://www.siemens.com/innovation/de/home/pictures-of-the-future/energie-und-effizienz/nachhaltige-energieerzeugung-intelligente-prognose-software.html?WT.mc_id=Siemens+Pictures+of+the+Future+Newsletter%3a+Die+Zukunft+der+Energiesysteme

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