Wie speichert das Gehirn Erinnerungen?

Die Forschergruppe von Prof. Martin Korte am Institut für Zoologie der Technischen Universität Braunschweig ist der Antwort auf diese Frage zwei Schritte näher gekommen. Die Ergebnisse ihrer Grundlagenforschung können später möglicherweise für die klinische Forschung, beispielsweise an der Alzheimer-Krankheit, von Bedeutung sein. Sie sind jetzt in zwei Artikeln in der renommierten Fachzeitschrift PNAS (Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America) veröffentlicht.

Speichern und vergessen

Unser Gehirn speichert täglich unzählige Informationen. Die Speichereinheiten für diese Informationen finden sich in den Synapsen, also in den feinen Verästelungen, über die sich die Nervenzellen im Gehirn miteinander vernetzen. Jede einzelne Zelle verfügt über bis zu 10.000 dieser winzigen Äste. Sobald wir Informationen verarbeiten, verändern sich diese. Wenn bestimmte Informationen nun in das Langzeitgedächtnis überschrieben werden sollen, bedeutet das, dass sich die entsprechenden Synapsen dauerhaft verändern müssen. Im Zellkern setzt sich dazu ein Mechanismus in Gang, der über die dortigen Gene bestimmte Proteine ausschüttet. Diesen Vorgang nennt man Transkription.

Wie aber „wissen“ die zentral produzierten Proteine, welche Synapsen dauerhaft verstärkt werden sollen? Und wie kommen Sie an die richtige Stelle? Martin Korte und Shreedharan Salikumar haben am Institut für Zoologie der TU Braunschweig beobachtet, wie die betroffenen Bereiche der Synapsen zu diesem Zweck auf raffinierte Weise auf sich aufmerksam machen. Sie produzieren einen Marker (engl. „tag“), der dafür sorgt, dass die notwendigen Proteine nur an eben diesen markierten Synapsen wirksam sind. Durch das „synaptic tagging“ müssen Proteine aus dem Zellkern nicht mehr gezielt an die richtige Stelle transportiert werden, sondern sie können in eine größere Funktionseinheit „geschickt“ werden. Ihre Wirkung entfalten sie nur an der richtigen Stelle. „Das Gehirn hängt auf diese Weise gleichsam einen Wimpel mit der Aufschrift ‚bitte verarbeiten und behalten‘ an die eintreffenden Signale,“ erläutert Prof. Martin Korte. „Auf Signale, die diesen Wimpel nicht erhalten, kann das Gehirn zwar reagieren, wird sie aber später wieder vergessen, um seine Speicherkapazitäten zu schonen.“

Lange Zeit ging die Forschung davon aus, dass alle Speichereinheiten im Dendritenbaum auf ähnliche Weise funktionieren. Korte und Salikumar konnten nun belegen, dass diese tatsächlich jeweils unabhängig voneinander unterschiedlich codierte Signale aufnehmen und sehr flexibel auf Anforderungen reagieren können. Sie können also ihrerseits sehr komplexe Strukturen bilden, die zusätzlich zum Zellkern für das Langzeitgedächtnis – oder für das Vergessen – verantwortlich sein können.

Je wichtiger die Informationen sind, um so komplexer werden die Signale, die sicherstellen, dass diese Erinnerungen auch bleibende Speicherorte finden. Denn nur so überwinden die Signale die Hindernisse, die in den Zellen die Bereiche abschirmen, welche für die Langzeiterinnerung zuständig sind.

Das Gedächtnis koppelt verschiedene Signale zusammen

Wenn wir die Informationen, die nicht im Zellkern, sondern im Netzwerk selbst gespeichert sind, später abrufen, kann es zu Überschneidungen oder Kopplungen in der Erinnerung kommen. Denn dann kann gleichzeitig ein ganzes System von weiteren Signalen aktiviert werden, die in beteiligten Zellen gespeichert sind. Daher erinnert man sich oftmals nicht nur an prägende Ereignisse, sondern beispielsweise auch genau an den Ort, wo diese stattfanden. „Dieses Phänomen kann auch eine Erklärung dafür liefern, warum es so schwer ist, gleichzeitig Spanisch und Portugiesisch zu lernen“, erklärt Korte. So kann zum Beispiel ein und dasselbe Neuron bei der Verarbeitung wichtiger Begriffe in den verwandten Sprachen beteiligt sein.

Quelle:
„Metaplasticity governs compartmentalization of synaptic tagging and capture through brain-derived neurotrophic factor (BDNF) and protein kinase Mζ (PKMζ)“

http://www.pnas.org/content/early/2011/01/18/1016849108.abstract?sid=b8ef3cd4-d5f9-4a42-88f0-e749d1cf14b8

Published online before print January 19, 2011, doi: 10.1073/pnas.1016849108

Bleibende Strukturen im hoch flexiblen Gehirn

Eine zweite PNAS-Publikation beschäftigt sich mit der Frage, warum wir wichtige Informationen über lange Zeit zuverlässig abrufen und Gelerntes von Neuem unterscheiden können. Ein medizinisches Rätsel kam Andrea Delekate, Marta Zagrebelsky, Stella Kramer und Prof. Martin Korte vom Institut für Zoologie der Technischen Universität Braunschweig sowie dem schweizer Hirnforscher Prof. Martin E. Schwab (Universität Zürich und der ETH Zürich) bei der Antwort zurhilfe.

NogoA ist ein Protein, das das Wachstum von Nervenzellen hemmt. Es kommt im Körper nur im Zentralen Nervensystem, also im Gehirn und im Rückenmark, vor – und kann eine fatale Wirkung entfalten. Wenn Nervenstränge, zum Beispiel in der Hand, verletzt werden, kann sich das Gewebe in der Regel regenerieren. Wird aber, wie nicht selten bei Motorradunfällen, das Rückenmark verletzt, sorgt dieses Protein dafür, dass die Nerven sich nicht wieder miteinander vernetzen. „Wir wussten bislang, vor allem aufgrund der Forschungsarbeiten von Martin Schwab, wie NogoA funktioniert. Aber wir wussten nicht, warum es existiert. Vor allem die Tatsache, dass das Protein am allermeisten im Hippocampus vorkommt, gab uns Rätsel auf,“ erläutert Martin Korte. „Es findet sich also vor allem in der Hirnregion, die dafür verantwortlich ist, welche Informationen vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis überführt werden.“ Um Muster erkennen und Erfahrungen behalten zu können, benötigen wir nicht nur ein sehr flexibles Nervensystem. Unser Gehirn muss ebenso in bestimmten Bereichen auch dauerhaft bleibende Strukturen aufbauen.

NogoA schützt vor zu viel Veränderungen

Die Forscher konnten nachweisen, dass das NogoA sowohl die Funktion als auch die Struktur von Nervennetzen stabilisiert, und auf diese Weise hilft, Erinnerungen zu speichern. Es schreibt also in bestimmten Stellen des Gehirns die Funktionalität von neuronalen Netzten fest und schützt sie vor weiteren Änderungen. „Allerdings können Antikörper an das Molekül binden und seine Wirkung wiederum an bestimmten Stellen verhindern“, so Korte.

Die Erkenntnisse können in einigen Jahren zur Entwicklung neuer Medikamente führen. Bei Schäden im zentralen Nervensystem, wie sie etwa bei einem Schlaganfall auftreten, kann die gezielte Blockade von NogoA die Plastizität fördern und die Rehabilitation unterstützen (also die Veränderlichkeit der neuronalen Netze erleichtern). Auch das Gehirn von älteren Menschen könnte man dann dabei unterstützen, sich besser an Dinge zu erinnern und Neues zu lernen.

Quelle:
„NogoA restricts synaptic plasticity in the adult hippocampus on a fast time scale“

http://www.pnas.org/content/early/2011/01/18/1013322108.abstract?sid=463a8ee4-f74b-40a5-9b0f-218c4ff16ebf

Published online before print January 24, 2011, doi: 10.1073/pnas.1013322108

Kontakt:

Prof. Martin Korte
Technische Universität Braunschweig
Zoologisches Institut
Abteilung Zelluläre Neurobiologie
Biozentrum, Spielmannstr. 7
38106 Braunschweig
Tel.: +49 531 391 3220
E-Mail: m.korte@tu-braunschweig.de

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