Warum es eine Kreuzung im Gehirn gibt

Ein mögliches Entwicklungsszenario: Ein urzeitlicher Fisch hat sich auf die Seite gedreht. Mund und Flossen haben die Bewegung aus Perspektive des Fisches im Uhrzeigersinn kompensiert, Augen und Nasenlöcher entgegengesetzt. Grafik: Marc de Lussanet<br>

Verkehrte Welt: Die linke Gehirnhälfte steuert bei Wirbeltieren, also auch bei Menschen, die rechte Körperseite, die rechte Hälfte steuert die linke Seite. Auch die Sehnerven kreuzen sich auf ihrem Weg von den Augen ins Gehirn im optischen Chiasma. Die Gründe dafür sind unklar – eine Erklärung lautet, dass diese sogenannte kontra-laterale Anordnung im Vorderhirn entstanden ist, weil sie die Sinneswahrnehmung verbessere.

Dr. Marc de Lussanet, Biologe und Neurowissenschaftler am Institut für Psychologie der Universität Münster, bezweifelt dies. Gemeinsam mit Prof. Dr. Jan Osse aus Wageningen, Niederlande, liefert er in der Fachzeitschrift Animal Biology eine andere Erklärung. Demnach hat sich ein früher Vorfahre der Wirbeltiere vor etwa einer halben Milliarde Jahre auf die linke Seite gedreht.

Der frühe Vorfahre – ein urzeitlicher Fisch – habe sich vor mindestens 450 Millionen Jahren um 90 Grad gedreht, so das deutsch-niederländische Forscherteam. Dafür entwickelten die beiden Wissenschaftler verschiedene Szenarien. Beispielsweise könnte die Drehung es dem Tier ermöglicht haben, sich wie eine Flunder auf dem Meeresboden zu verstecken. Jedoch wäre durch eine bloße Drehung die bilateral-symmetrische Anordnung der Organe verloren gegangen, bei der die Augen links und rechts am Kopf liegen und die Flossen rechts und links an beiden Seiten des Körpers entspringen.

Um diese symmetrische Anordnung wieder herzustellen, so die Annahme der beiden Forscher, verschoben sich im Laufe der Evolution einzelne Körperteile, zum Teil gegen den Uhrzeigersinn, zum Teil im Uhrzeigersinn. Augen, Nasenlöcher und das Vorderhirn verschoben sich demnach in Richtung der ursprünglichen Drehung, weiter schwanzwärts gelegene Regionen des Gehirns und des Körpers genau entgegensetzt. So entstanden zum Teil Kreuzungen der Nervenbahnen zwischen den Körperregionen, beispielsweise entstand das optische Chiasma – die Kreuzung der Sehnerven. Die Wissenschaftler untermauern ihre Hypothese unter anderem mit Beobachtungen aus der Embryonalentwicklung bei Zebrafischen und Hühnern. In den frühesten Embryonalstadien finden asymmetrische zelluläre Bewegungen statt, für die es bislang keine Erklärung gab. Die neue Arbeit zeigt, dass diese Zellbewegungen tatsächlich genau so verlaufen, wie man es bei einer Anpassung an die Drehung auch erwarten würde.

Eine bilateral-symmetrische Anordnung von Sinnesorganen und Extremitäten bietet Tieren einen evolutionären Vorteil. Beispielsweise kann es für einen Fisch erforderlich sein, rechts und links Steuerflossen zu haben. Daher wurde diese Anordnung trotz der Drehung auf die Seite beibehalten, so das Forscherteam. Der evolutionäre Vorteil gelte aber nicht unbedingt für die inneren Organe. Das Herz und der Magen-Darm-Trakt mussten sich daher nicht „zurückdrehen“ – eine Erklärung dafür, weshalb das Herz nach wie vor links liegt.

„Wir liefern erstmals eine schlüssige Erklärung für die Vielzahl der gekreuzten Nervenverbindungen im Vorderhirn und die Tatsache, dass diese Kreuzungen bei Wirbeltieren so verbreitet sind“, sagt Marc de Lussanet. „Und zwar im Gegensatz zu dem, was die alte Theorie besagt, ohne jegliche Verbesserungen der Wahrnehmung oder der Handlungssteuerung.“

Dr. Marc de Lussanet ist Mitglied des „Otto Creutzfeldt Center for Cognitive and Behavioral Neuroscience“ (OCC). Das OCC ist ein Forschungszentrum der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, das von Wissenschaftlern aus Medizin, Biologie und Psychologie getragen wird. Die Forscher bearbeiten interdisziplinär aktuelle Fragestellungen aus den Verhaltensneurowissenschaften mit Methoden der modernen Bildgebung, der molekularen Genetik und der Neurophysiologie.

Originalliteratur:

Marc H. E. de Lussanet and Jan W. M. Osse (2012): An ancestral axial twist explains the contralateral forebrain and the optic chiasm in vertebrates. Animal Biology 62 (2), 193-216; DOI: 10.1163/157075611X617102

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