Kälteschmerz nach Fischgenuss: Mechanismus der Überempfindlichkeit bei Ciguatoxin-Vergiftung
Noch lange Zeit danach melden einige Nerven schmerzhafte Kälte bei Temperaturen, die früher als erfrischend kühl empfunden wurden − ein typisches Kennzeichen der tropischen Fischvergiftung Ciguatera.
Nun hat eine Gruppe von Wissenschaftlern der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) zusammen mit Kollegen von der Australischen University of Queensland in Brisbane herausgefunden, welcher Mechanismus diese Überempfindlichkeit in Gang setzt: Ein Kältesensor wird stark sensibilisiert.
Der Sensor TRPA1 wird durch das Gift so beeinflusst, dass er bereits Alarm schlägt, wenn dazu noch gar kein Anlass ist. Die renommierte Fachzeitschrift „EMBO Journal“ hat online bereits darüber berichtet und plant demnächst eine Veröffentlichung der Druckversion.
Ciguatera ist weltweit die häufigste Fischvergiftung. Wie man vielleicht mutmaßen könnte, wird sie aber nicht etwa durch verdorbene oder giftige Fische verursacht, sondern durch den Verzehr von normalerweise harmlosen und geschmackvollen Speisefischen. Die Ursache der Vergiftung sind sogenannte Ciguatoxine. Ursprünglich stammen sie von einzelligen Geißeltierchen, den sogenannten Dinoflagellaten, die auf Algen und Seetang im Korallenriff als Epiphyten leben. Im Laufe der Nahrungskette reichert sich das Gift mehr und mehr an und erreicht in den großen Riffjägern die höchsten Konzentrationen. Am Ende leidet der Mensch, denn Fische sind gegen das starke Nervengift aus unbekanntem Grund unempfindlich.
Die betroffenen Raubfische sind nur schwerlich von ihren ungiftigen Artgenossen zu unterscheiden und die Zahl der belasteten Fischarten entsprechend groß. Da zwischen dem Fischverzehr und dem Auftreten erster Vergiftungserscheinungen nur wenig Zeit verstreicht, kann die schönste Zeit des Jahres – verbracht an einem idyllischen Sandstrand einer tropischen Insel – nach dem Genuss des vielleicht selbst gefangenen einheimischen Fisches sehr schnell zum regelrechten Alptraum werden: Während zu Beginn vor allem Übelkeit, Erbrechen, Unterleibsschmerzen und Durchfälle im Mittelpunkt stehen, weichen diese Symptome nach wenigen Tagen zunehmend neurologischen Krankheitserscheinungen und vielfältigen Schmerzsymptomen, die zum Teil über Monate bis Jahre vorhalten können. Eine spezifische Therapie gibt es nicht.
Ein besonders charakteristisches Merkmal der Vergiftung besteht darin, dass Kälte schmerzhafte, brennende oder kribbelnde Empfindungen an den Händen und Füßen und im Mundbereich hervorruft. Dies kann z.B. beim Kontakt mit normalerweise angenehm kühler Luft oder beim Verschlucken von kalter Nahrung oder Getränken geschehen. Von dieser schmerzhaften Kälteüberempfindlichkeit, die der Neurologe auch Kaltallodynie nennt, berichtet fast jeder Patient. Durch den Genuss von Alkohol nehmen die Beschwerden noch zu.
Ganz im Gegensatz zu den peinigenden Symptomen der Erkrankung geraten Chemiker beim Blick auf die komplexe Molekülstruktur dieses Naturstoffs geradezu ins Schwärmen, denn sie kann in all ihren Varianten, wie sie im indischen, pazifischen und dem karibischen Ozean saisonal gehäuft zu finden sind, 11 bis 14 verschiedenen Ringe aufweisen, wobei vom Fünfring bis zum Neunring alles vorkommt; zugleich ist Ciguatoxin ein fettlöslicher Polyether mit mehr als 28 Chiralitätszentren − Bezugspunkten einer räumlichen Anordnung von Molekülen, die trotz gleicher Zusammensetzung nicht durch Drehen zur Deckung gebracht werden können − und kann auch eine exotische Verbindung von Ringen über nur ein Atom (Spiroverbindung) enthalten. Weder durch Hitze, Einfrieren oder Säureeinwirkung lässt es sich zerstören. Für den winzigen archaischen Dinoflagellaten Gambierdiscus toxicus also eine höchst bewundernswerte Syntheseleistung. Erst 2001 gelang es japanischen Chemikern, es dem Einzeller gleichzutun und dieses komplizierte Molekül im Labor nachzubilden.
Angriffspunkt für das Toxin sind die sogenannten Natriumkanäle auf erregbaren Nervenmembranen, wie sie z.B. auf den schmerzsensiblen Nervenendigungen in der Haut zu finden sind. Von hier aus gehen Signale in Form von Nervenimpulsen (Aktionspotentialen) an das Gehirn, um z.B. drohenden Gewebeschaden zu melden. Dass das Fischtoxin diese Kanäle irreversibel aktiviert, ist schon seit fast 30 Jahren bekannt, aber wie daraus eine so schmerzhafte Überempfindlichkeit gegen kalte Temperaturen resultieren kann, war bisher rätselhaft.
Das deutsch-australische Forscherteam entdeckte nun, dass durch die Aktivierung der Natriumkanäle gleichzeitig ein bereits bekannter Kältesensor, TRPA1, stark sensibilisiert wird. Unter normalen Umständen wird dieser Sensor erst durch Abkühlen unter 10°C geöffnet, aktiviert dann die besagten Natriumkanäle, und diese warnen den Körper vor unmittelbar drohender kälteinduzierter Gewebeschädigung. Wird dieser Rezeptor nun aber durch die Überaktivität der Natriumkanäle sensibilisiert, vermittelt er die Empfindung des Kältebrennschmerzes schon bei normalerweise als angenehm empfundenen kühlen Temperaturen.
Die durch das Toxin induzierte Sensibilisierung der Temperaturempfindlichkeit des Messfühlers TRPA1 entdeckten die Forscher bei Versuchen an Zellen in der Kulturschale. Dort fiel ihnen auf, dass gerade diejenigen Neurone, die TRPA1 exprimieren, besonders empfindlich auf das Toxin reagieren. In einem stark vereinfachten Zellmodell stellte sich heraus, dass TRPA1 durch den Giftstoff Ciguatoxin nicht direkt aktiviert wird. Erst wenn sich auch ein Natriumkanal in der Zellmembran befindet, reagiert der Rezeptor unmittelbar hochempfindlich auf Temperaturabsenkungen. „Dadurch werden Temperaturen, die knapp unterhalb der normalen Hauttemperatur von 32°C liegen, als genauso schmerzhaft interpretiert wie normalerweise Temperaturen nahe dem Gefrierpunkt“ erklärt Dr. Irina Vetter vom Institute of Molecular Biosciences der University of Queensland.
Der TRPA1-Sensor befindet sich auch in den hauchdünnen Endigungen der Schmerzfasern in den untersten Schichten der Oberhaut, die unmittelbar Temperaturänderungen ausgesetzt sind. Dr. Katharina Zimmermann vom Institut für Physiologie und Pathophysiologie der FAU kann von diesen Nerven in der Maus elektrische Impulse registrieren und so die Wirkung des Toxins auf die sensorischen Nervenendigungen untersuchen. In Mäusen, bei denen der TRPA1-Rezeptor gentechnisch ausgeschaltet ist, fiel ihr auf, dass die Wirkung des Toxins stark abgeschwächt ist. In Verhaltensversuchen stellten die Forscher fest, dass die Mäuse ohne den TRPA1-Rezeptor auch annähernd immun gegen die Entwicklung des vom Toxin verursachten Kältebrennschmerzes waren.
Bei den Forschungsarbeiten bewährte sich die Zusammenarbeit der Arbeitsgruppe von Prof. Dr. Peter Reeh und PD Dr. Zimmermann am Institut für Physiologie und Pathophysiologie mit dem Pharmakologen und Spezialisten für funktionelle Bildgebung PD Dr. Andreas Hess (Institut für Pharmakologie und Toxikologie der FAU), der durch fMRI im Mäusegehirn erstmals nachweisen konnte, dass die TRPA1-defizienten Tiere schon im Grundzustand kalte Temperaturen abgeschwächt wahrnehmen – ein Befund, der bisher unentdeckt blieb, da gängige Verhaltenstest in Mäusen wohl nicht sensitiv genug sind, um diese feinen Unterschiede aufzudecken. Dieses Wahrnehmungsdefizit ist dann nach Behandlung mit dem Kältebrennschmerzinduzierenden Toxin noch erheblich stärker ausgeprägt, wie Dr. Hess feststellte.
Die Forscher ziehen aus ihren Ergebnissen den Schluss, dass der Kältesensor TRPA1 unter vergleichbaren Umständen auch bei anderen Erkrankungen, beispielsweise bei neuropathischen Schmerzen so überempfindlich reagieren kann, dass ähnliche Brennschmerzen bei Abkühlung entstehen, unter denen diese Patienten bisweilen leiden. Außerdem sind die Wissenschaftler der Meinung, dass ein bereits in klinischer Testung befindlicher TRPA1-Blocker bei der Behandlung der Symptome der Fischvergiftung den Betroffenen große Erleichterung verschaffen könnte.
Die Forschungsarbeit wurde unter anderem vom DAAD und der Staedtler Stiftung finanziell unterstützt.
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PD Dr. Katharina Zimmermann
Institut für Physiologie und Pathophysiologie
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