Domino im Urwald

Buntspechte (Dendrocopos major) ernähren sich im Sommer nicht allein von Insekten, sondern auch von Früchten einiger Baum- und Staucharten. Im Bild frisst ein Buntspecht die Früchte der Roten Johannisbeere (Ribes spicatum). Er scheidet die Pflanzensamen an anderer Stelle wieder aus und trägt so zu deren Ausbreitung bei. (Fotos: Philipps-Universität / Jörg Albrecht)

Pflanzen und Tiere eines Lebensraumes treten in vielfältige Beziehungen zueinander. „Beispielsweise sind viele Pflanzen auf die Bestäubung ihrer Blüten durch Insekten angewiesen und benötigen zusätzlich Vögel oder Säugetiere, die die Pflanzensamen ausbreiten“, führt Erstautor Jörg Albrecht aus.

„In diesem Fall fördern sich Bestäuber und Samenausbreiter indirekt gegenseitig, weil sie die Fortpflanzungs- und Ausbreitungsfähigkeit der gemeinsam genutzten Nahrungspflanzen erhöhen.“ Veränderungen des Lebensraumes beeinflussen dieses Zusammenleben; die meisten Studien haben sich jedoch bislang auf nur einen einzigen Typus von Interaktion konzentriert:

Zum Beispiel nur auf die Beziehung zwischen Räuber und Beute, oder auf die Wechselwirkung von Pflanzen mit ihren Bestäubern. „Dabei sind dieselben Arten oft an mehreren Prozessen beteiligt“, wie die Autoren betonen.

Die Wissenschaftler um Juniorprofessorin Dr. Nina Farwig und Professor Dr. Roland Brandl von der Philipps-Universität wollten wissen, ob die Naturzerstörung in gleicher Weise auf mehrere Interaktions-Netzwerke einwirkt. Als Untersuchungsgebiet wählten sie Europas letzten Rest ursprünglichen Auwalds: Białowieża im Osten Polens. Während des letzten Jahrhunderts fielen über 80 Prozent des polnischen Teils dieses Urwaldes kommerziellem Holzeinschlag zum Opfer.

„Derzeit zeigen nur 45 Quadratkilometer des Waldes noch immer eine natürliche Dynamik, die für Urwälder typisch ist“, führen die Verfasser aus. Für ihre zweijährige Feldstudie nahmen sich die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zehn Pflanzenarten vor, deren Blüten und Früchte einer Vielzahl wildlebender Tierarten als Nahrungsgrundlage dienen – unter anderem Himbeere, Traubenkirsche und die wilden Formen der Roten und Schwarzen Johannisbeere.

Die Forscher dokumentierten 5.784 Interaktionen mit 294 Bestäuberarten (hauptsächlich Insekten wie Bienen, Schmetterlinge und Käfer) und 5.935 Interaktionen mit 34 samenausbreitenden Arten (ganz überwiegend Vögel und Säugetiere); das Team verzeichnete die Anzahl der Partner sowie die Häufigkeit von Interaktionen.

Das Ergebnis: Waldnutzung erhöht die Anzahl der Partner bei der Bestäubung um 18 Prozent. „Dies beruht womöglich auf der vermehrten Verfügbarkeit von offenen Lebensräumen“, vermuten die Autoren. Bei der Samenausbreitung hingegen sinkt die Partnerzahl um 27 Prozent und die Frequenz der Wechselwirkungen um 50 Prozent; „dieser erhebliche Rückgang kann zumindest teilweise einem Verlust spezialisierter Arten zugeschrieben werden, die auf alte Waldbestände angewiesen sind“, erklären die Wissenschaftler.

Mehr noch: Obwohl die Waldnutzung ungleiche Folgen für Bestäuber und Samenausbreiter hat, fanden die Forscher starke Hinweise darauf, dass die Reaktionen von Bestäubern und Samenausbreitern gekoppelt sind: „Pflanzenarten, die in genutzten Wäldern viele Samenausbreiter verloren, waren auch stärker von einem Verlust an Bestäubern betroffen“, erläutert Albrecht.

Dabei reiche es aus, dass die Häufigkeit einer einzigen Pflanzenart sich ändert, um andere Arten zu beeinflussen, die mit ihr in Beziehung stehen – eine Art Dominoeffekt. „Unsere Ergebnisse sind alarmierend“, schreibt das Autorenteam: „Sie lassen den Schluss zu, dass die Vernichtung von Urwald zum parallelen Verlust mehrerer Leistungen dieses Ökosystems führt.“

Dr. Nina Farwig hat seit 2008 die Robert-Bosch-Juniorprofessur für „Nachhaltige Nutzung natürlicher Ressourcen“ an der Philipps-Universität inne. Die aktuelle Studie entstand im Rahmen der Dissertation von Jörg Albrecht im Fachgebiet Naturschutzökologie unter Betreuung von Nina Farwig. Das Projekt wurde im Rahmen eines Promotionsstipendiums der Deutschen Bundesstiftung Umwelt an Jörg Albrecht und durch Mittel der Robert-Bosch-Stiftung an Nina Farwig finanziell gefördert. Roland Brandl leitet die Arbeitsgruppe „Allgemeine Ökologie und Tierökologie“ der Philipps-Universität.

Originalveröffentlichung: Jörg Albrecht & al.: Correlated loss of ecosystem services in coupled mutualistic networks, Nature Communications 2014, DOI: 10.1038/ncomms4810

Weitere Informationen:
Ansprechpartner:
Jörg Albrecht, MSc.
Arbeitsgruppe Naturschutzökologie
Tel.: 06421 28-25385
E-Mail: joerg.albrecht@staff.uni-marburg.de

Juniorprofessorin Dr. Nina Farwig,
Arbeitsgruppe Naturschutzökologie
Tel.: 06421 28-23478
E-Mail: farwig@staff.uni-marburg.de
Homepage: http://www.uni-marburg.de/fb17/fachgebiete/oekologie/conserv_ecol

Media Contact

Johannes Scholten idw - Informationsdienst Wissenschaft

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Biowissenschaften Chemie

Der innovations-report bietet im Bereich der "Life Sciences" Berichte und Artikel über Anwendungen und wissenschaftliche Erkenntnisse der modernen Biologie, der Chemie und der Humanmedizin.

Unter anderem finden Sie Wissenswertes aus den Teilbereichen: Bakteriologie, Biochemie, Bionik, Bioinformatik, Biophysik, Biotechnologie, Genetik, Geobotanik, Humanbiologie, Meeresbiologie, Mikrobiologie, Molekularbiologie, Zellbiologie, Zoologie, Bioanorganische Chemie, Mikrochemie und Umweltchemie.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Neue universelle lichtbasierte Technik zur Kontrolle der Talpolarisation

Ein internationales Forscherteam berichtet in Nature über eine neue Methode, mit der zum ersten Mal die Talpolarisation in zentrosymmetrischen Bulk-Materialien auf eine nicht materialspezifische Weise erreicht wird. Diese „universelle Technik“…

Tumorzellen hebeln das Immunsystem früh aus

Neu entdeckter Mechanismus könnte Krebs-Immuntherapien deutlich verbessern. Tumore verhindern aktiv, dass sich Immunantworten durch sogenannte zytotoxische T-Zellen bilden, die den Krebs bekämpfen könnten. Wie das genau geschieht, beschreiben jetzt erstmals…

Immunzellen in den Startlöchern: „Allzeit bereit“ ist harte Arbeit

Wenn Krankheitserreger in den Körper eindringen, muss das Immunsystem sofort reagieren und eine Infektion verhindern oder eindämmen. Doch wie halten sich unsere Abwehrzellen bereit, wenn kein Angreifer in Sicht ist?…

Partner & Förderer