Die Wirkung von Medikamenten präziser kontrollieren

Computerdarstellung des Diazocins (braun) und des Estradiols (hellblau) gebunden im Rezeptor
© Herges/Peifer

Internationales Forschungsteam aus Pharmazie und Chemie entwickelt gezielt aktivierbares Östrogen.

Unerwünschte Nebenwirkungen im Körper, die Entwicklung von Resistenzen oder umweltschädliche Rückstände – Medikamente heilen nicht nur Krankheiten oder lindern Schmerzen, sondern können auch negative Auswirkungen für Mensch und Umwelt haben. Verringern könnten das medizinische Wirkstoffe, die nur an ihrem Einsatzort im Körper aktiviert werden. Ein Forschungsteam aus Pharmazie und Chemie der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) ist es jetzt gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Barcelona und Glasgow gelungen, ein per Licht aktivierbares Östrogen zu entwickeln. So kann die biologische Wirkung des Geschlechtshormons auf einen Bereich begrenzt werden, der deutlich kleiner ist als eine Zelle. Ihre Ergebnisse hat das Forschungsteam kürzlich im renommierten Journal of the American Chemical Society veröffentlicht.

Hormonrückstände belasten Abwasser

Das Modell zeigt, wie strukturell ähnlich sich ein natürliches Geschlechtshormon Estradiol (hellblau) und ein Diazocin-Molekül (braun) im aktiven Zustand sind (links) und wie unähnlich im inaktiven (grau, rechts).
© Herges/Peifer

Künstliche Östrogene werden auch als Arzneistoff eingesetzt, unter anderem in hormonellen Verhütungsmitteln, zur Behandlung von Brustkrebs oder gegen Beschwerden in den Wechseljahren. Geraten sie ins Abwasser, kann das zum Beispiel den Hormonhaushalt von Fischen und anderen Organismen beeinflussen und ihre Fortpflanzungsfähigkeit gefährden. „Risiken wie Arzneimittelrückstände im Trink- und Abwasser sind schon lange bekannt. Ein weiteres Problem bei der Applikation von Medikamenten ist die Schädigung von gesundem Nachbargewebe, wie bei der Chemotherapie. Neue Ansätze dagegen könnte die Photopharmakologie liefern“, erklärt Rainer Herges, Professor für Organische Chemie an der CAU.

In dem relativ jungen Forschungsfeld geht es um die Entwicklung von Wirkstoffen, die sich durch Licht mit verschiedenen Wellenlängen gezielt aktivieren und wieder deaktivieren lassen – zum Beispiel direkt an einem Entzündungsherd oder Tumor im Körper. Die Basis für solche Wirkstoffe sind „schaltbare“ Moleküle, wie zum Beispiel Diazocine. Sie ändern ihre Form und damit ihre Eigenschaften, wenn sie bestimmten äußeren Reizen ausgesetzt werden.

Wirkung erstmals auf eine Zelle begrenzen

Rainer Herges ist es nun gemeinsam mit Christian Peifer, Professor für Pharmazeutische Chemie an der CAU, und Forschenden von den Universitäten Glasgow und Ramon Llull in Barcelona gelungen, Diazocin-Moleküle herzustellen, die wie Östrogene wirken und deren Wirkung mit Licht an- und ausschaltbar ist.

Diazocin-Moleküle ähneln in ihrer Struktur dem natürlichen Östrogen Estradiol. So können sie an den Östrogenrezeptoren in bestimmtem Körpergeweben andocken und Reaktionen in Gang setzen. Werden sie blauem Licht mit einer Wellenlänge von 400 Nanometern ausgesetzt, schaltet sich ihre biologische Wirkung ein, bei grünem Licht mit einer Wellenlänge von 530 Nanometern wieder aus. Eine der Verbindungen hat in seiner aktivierten Form sogar eine noch stärkere Wirkung als Estradiol, das als das wirksamste der natürlichen Östrogene gilt.

„Aber der eigentliche ‚Star‘ unserer Studie ist ein Molekül, das seine Wirksamkeit sofort verliert, wenn es den Östrogenrezeptor verlässt. Es ist nur biologisch aktiv, wenn es kurz belichtet wird und gleichzeitig am Rezeptor gebunden ist“, betont Herges. Die Wirkung eines Stoffs lässt sich damit auf einen Bereich begrenzen, der deutlich kleiner als eine Zelle ist. Damit haben die Arbeitsgruppen ein Instrument entwickelt, um die Funktionsweise eines Wirkstoffs mit bisher unerreichbarer, subzellularer Auflösung zu untersuchen. „Das ist ein bedeutender Schritt für die photopharmakologische Forschung – aus der internationalen Fachwelt haben wir dazu schon viel positive Resonanz bekommen“, so Herges.

Langfristig sind lichtschaltbare Medikamente denkbar

„Die Grundstruktur der neuen Moleküle eignet sich möglicherweise, um daraus lichtschaltbare Wirkstoffe für die Behandlung von Osteoporose und Brustkrebs zu entwickeln“, gibt Peifer einen Ausblick in die Zukunft. Weitere Projekte mit lichtschaltbaren Medikamente sind in Arbeit. Eine per Licht kontrollierbare Substanz, mit der man die Aktivität von einzelnen Nervenzellen steuern kann, hat Rainer Herges mit weiteren Forschenden aus Barcelona und Kiel bereits publiziert (https://pubs.acs.org/doi/10.1021/acs.orglett.9b01222). Bis lichtschaltbare Medikamente in der klinischen Praxis eingesetzt werden, werde es jedoch vermutlich noch einige Jahre dauern.

Die Studie wurde finanziert von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) und vom Sonderforschungsbereich (SFB) 677 „Funktion durch Schalten“. Mit dem SFB förderte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) von 2007 bis 2019 die Forschung an schaltbaren Molekülen und molekularen Maschinen an der CAU.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Prof. Dr. Rainer Herges
Institut für Organische Chemie
Sprecher des Sonderforschungsbereichs 677 „Funktion durch Schalten“ (2007-2019)
Telefon: +49 431 880 2440
E-Mail: rherges@oc.uni-kiel.de
Web: http://www.sfb677.uni-kiel.de

Prof. Dr. rer. nat. Christian Peifer
Pharmazeutisches Institut
Telefon: +49 431 880-1137
E-Mail: cpeifer@pharmazie.uni-kiel.de
Web: http://www.pharmazie.uni-kiel.de/de/pharmazeutische-chemie/Prof.%20Dr.%20Christi…

Originalpublikation:

Photoswitchable Diazocine-Based Estrogen Receptor Agonists: Stabilization of the Active Form inside the Receptor. Julia Ewert, Linda Heintze, Mireia Jordà-Redondo, Jan-Simon von Glasenapp, Santi Nonell, Götz Bucher, Christian Peifer, and Rainer Herges. J. Am. Chem. Soc. 144, 15059−15071, 2022, DOI: https://doi.org/10.1021/jacs.2c03649

Weitere Informationen:

https://www.uni-kiel.de/de/detailansicht/news/158-oestrogene Link zur Meldung
http://www.sfb677.uni-kiel.de Sonderforschungsbereich 677 „Funktion durch Schalten“
http://www.kinsis.uni-kiel.de Forschungsschwerpunkt KiNSIS „Kiel Nano, Surface and Interface Science“ der Uni Kiel
https://pubs.acs.org/doi/10.1021/acs.orglett.9b01222 Weitere Publikation zum Thema

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