Die ganz frühe Kindheit prägt die Bakteriengemeinschaft im Darm

Lutschen, lecken, beißen - Babys erforschen ihre Umgebung vorrangig mit dem Mund. So gelangen auch viele Bakterien in den Darm. Das ist gerade in der frühen Kindheit wichtig, damit eine vielfältige und funktionierende Bakteriengemeinschaft im Darm entstehen kann. © Colin Maynard on Unsplash

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr. Diese Lebensweisheit gilt scheinbar nicht nur ganz allgemein für die Bildung, sondern auch für wesentliche biologische Prozesse. Nach der Geburt gibt es ein besonders wichtiges Zeitfenster, in der die Bakteriengemeinschaft im Darm, das sogenannte Mikrobiom, geformt wird.

In der jetzt in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichten Studie wurde ein molekularer Faktor identifiziert, der bei Mäusen nur bis 21 Tage nach der Geburt aktiv ist. In dieser Zeit beeinflusst der Faktor, welche Bakterien den Darm besiedeln.

„Man kann das nicht 1:1 auf die Situation beim Menschen übertragen, aber bei der Maus ist das ungefähr der Zeitpunkt, wo die Umstellung von Muttermilch zu fester Nahrung erfolgt. Beim Menschen wäre das entsprechend etwa ein halbes Jahr“, erklärt Zweitautor Dr. Felix Sommer aus der Arbeitsgruppe von Cluster-Vorstandsmitglied Professor Philipp Rosenstiel am Institut für Klinische Molekularbiologie an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU)  und dem Sonderforschungsbereich 1182 „Entstehen und Funktionieren von Metaorganismen“.

Bereits frühere Experimente weisen darauf hin, dass es ein Zeitfenster für die Prägung des Mikrobioms gibt. Die jetzt in Nature veröffentlichten Ergebnisse weisen erstmals einen konkreten Mechanismus im angeborenen Immunsystem nach, der nur kurz nach der Geburt aktiv ist und die Besiedlung mit Mikroorganismen reguliert. Diese Phase ist prägend für die lebenslange Zusammensetzung des Mikrobioms.

Das Forschungsteam unter Leitung des Aachener Mikrobiologen Professor Mathias Hornef untersuchte in Epithelzellen des Darms von jungen und älteren Tieren das Vorhandensein von Rezeptoren des angeborenen Immunsystems, die bakterielle Strukturen erkennen. Vor allem bei dem Rezeptor TLR5 (Toll-like Rezeptor 5) zeigte sich eine deutliche Altersabhängigkeit. Drei Tage alte Tiere hatten eine wesentlich höhere Expression des Rezeptors als ältere Tiere.

Diese Beobachtung war Ausgangspunkt für Experimente zur Besiedlung von keimfreien jungen und alten Mäusen mit dem Mikrobiom anderer Tiere. „TLR5 erkennt Flagellin, die Hauptkomponente bakterieller Flagellen. Mäuse, denen nach genetischer Veränderung TLR5 fehlt, haben ein verändertes Mikrobiom durch die Ausbreitung von flagellierten Bakterien. Wir haben keimfreie Wildtyp-Mäuse mit der Darmflora von anderen Tieren kolonisiert, und zwar zum einen mit dem Bakterienmix von anderen Wildtyp-Mäusen und zum anderen mit dem von genetisch veränderten Mäusen ohne TLR5“, erklärt Sommer, der im Projekt für die detaillierte Analyse des Mikrobioms zuständig war.

„Bei den jungen kolonisierten Wildtyp-Tieren veränderte sich das Mikrobiom über die Zeit und wurde in beiden Fällen ähnlich der von den Wildtyp-Tieren. Sie haben einen aktiven TLR5 Rezeptor und können die Bakterienzusammensetzung entsprechend umdrehen.  Anders die erwachsenen Tiere, die nicht mehr über den Rezeptor verfügen. Und genau das zeigte sich auch im Experiment.“ Umgekehrt habe sich gezeigt, dass keimfreie Mäuse, die durch genetische Veränderung kein TLR5 bilden können, weder als Jungtiere noch als erwachsene Tiere das TLR5-Mikrobiom in Richtung Wildtyp-Mikrobiom verändern können.

Die Zusammensetzung und das Gleichgewicht von Darmbakterien sind wesentlich für die Gesundheit. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass zum Beispiel chronisch entzündliche Erkrankungen oder Stoffwechselerkrankungen mit einer veränderten Darmflora zusammenhängen. Bisher ist es aber nicht gelungen, dass Mikrobiom im Erwachsenenalter durch äußere Faktoren wie die Ernährung oder spezielle Behandlungen langfristig wesentlich zu beeinflussen.

„Das Mikrobiom ist sehr viel stabiler, als man das bei all dem, was tagtäglich darauf einwirkt, erwarten könnte. Selbst nach einer Magen-Darm-Infektion oder einer Antibiotikabehandlung stellt sich nach einiger Zeit das individuelle Mikrobiom wieder ein“, betont Rosenstiel. „Die Studie zeigt, dass es sehr früh im Leben eine kritische Phase gibt, in der wir bestimmte Bakterien sehen müssen, damit hinterher ein vielfältiges und funktionierendes Mikrobiom im Darm vorzufinden ist.“

Pressemeldung der RWTH Aachen

https://bit.ly/2KFXUk2

Originalpublikation

Marcus Fulde, Felix Sommer, Benoit Chassaing, Kira van Vorst, Aline Dupont, Michael Hensel, Marijana Basic, Robert Klopfleisch, Philip Rosenstiel, André Bleich, Fredrik Bäckhed, Andrew T. Gewirtz, Mathias W. Hornef: Neonatal selection by Toll-like receptor 5 influences long-term gut microbiota composition. Nature. Published 08 August 2018. doi: 10.1038/s41586-018-0395-5

Bildmaterial steht zum Download bereit:

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Philip Rosenstiel, Exzellenzcluster Entzündungsforschung, Professor für Molekulare Medizin an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie, Medizinische Fakultät der CAU und Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel.

© Dr. Tebke Böschen, Exzellenzcluster Entzündungsforschung

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Felix Sommer, wissenschaftlicher Mitarbeiter, Arbeitsgruppe molekulare Zellbiologie, Institut für Klinische Molekularbiologie, Medizinische Fakultät der CAU und Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Kiel.

© IKMB

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Lutschen, lecken, beißen – Babys erforschen ihre Umgebung vorrangig mit dem Mund. So gelangen auch viele Bakterien in den Darm. Das ist gerade in der frühen Kindheit wichtig, damit eine vielfältige und funktionierende Bakteriengemeinschaft im Darm entstehen kann.

© Colin Maynard on Unsplash

Kontakt:

Dr. Felix Sommer
Institut für Klinische Molekularbiologie, CAU Kiel
Tel.: 0431/500- 15146
f.sommer@ikmb.uni-kiel.de
 
Prof. Dr. Philip Rosenstiel
Institut für Klinische Molekularbiologie, CAU Kiel
Tel.: 0431/500 15111
p.rosenstiel@mucosa.de
 
Pressekontakt:
Kerstin Nees
E-Mail: presse.cluster@uv.uni-kiel.de
Internet: www.inflammation-at-interfaces.de

Der Exzellenzcluster „Inflammation at Interfaces/Entzündungsforschung“ wird seit 2007 durch die Exzellenzinitiative des Bundes und der Länder mit einem Gesamtbudget von 68 Millionen Euro gefördert; derzeit befindet er sich in der zweiten Förderphase. Die rund 300 Clustermitglieder an den insgesamt vier Standorten: Kiel (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Muthesius Kunsthochschule), Lübeck (Universität zu Lübeck, UKSH), Plön (Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie) und Borstel (Forschungszentrum Borstel – Leibniz-Zentrum für Medizin und Biowissenschaften) forschen in einem innovativen, systemischen Ansatz an dem Phänomen Entzündung, das alle Barriereorgane wie Darm, Lunge und Haut befallen kann.

Exzellenzcluster Entzündungsforschung

Wissenschaftliche Geschäftsstelle, Leitung: Dr. habil. Susanne Holstein

Postanschrift: Christian-Albrechts-Platz 4, D-24118 Kiel

Telefon: (0431) 880-4850, Telefax: (0431) 880-4894

E-Mail: spetermann@uv.uni-kiel.de

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Link zur Meldung:

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Kerstin Nees Christian-Albrechts-Universität zu Kiel

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