Blind und doch nicht blind

Im Versuch sehen Fruchtfliegen ein sich drehendes Streifenmuster. Die Fliege selbst ist stationär, unter ihren Beinen befindet sich jedoch ein auf einem Luftstrom gelagerter Styroporball. Über zwei Kameras wird die Drehung des Styroporballs aufgenommen, wodurch das Laufverhalten der Fliege präzise rekonstruiert werden kann. Werden nun einzelne Nervenzellen im visuellen System der Fliege ausgeschaltet, so zeigt sich der Einfluss dieser Zellen in der fehlenden Reaktion der Tiere auf das Streifenmuster. © MPI für Neurobiologie<br>

Wenn eine Mücke sich dem menschlichen Ohr nähert oder eine Biene die nächste Blüte ansteuert, sind zwei Dinge von Bedeutung: Die Insekten müssen ihr Ziel fixieren und Kursabweichungen, zum Beispiel durch einen Windstoß, korrigieren können. Wie verarbeitet das Gehirn diese unterschiedlichen Situationen, damit beide Verhalten möglich sind?

Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für Neurobiologie in Martinsried bei München haben in Verhaltensexperimenten gezeigt, dass beide Verhalten im Gehirn der Fruchtfliege Drosophila über separate Schaltkreise gesteuert werden. Eines dieser neuronalen Netzwerke verarbeitet Bewegungsinformationen der Umwelt und dient der Fliege zur Kursstabilisierung. Das andere ist für das Ermitteln der Position eines Objekts zuständig und wird zur Objekt-Fixierung benutzt.

Dreht sich ein Zylinder mit senkrechten Streifen um ein Insekt herum, so dreht sich das Tier mit den Streifen mit. Dieses angeborene Verhalten wird als optomotorische Reaktion bezeichnet. Das Experiment entspricht dabei einem natürlichen Szenario: Verschiebt zum Beispiel ein Windstoß eine fliegende Fliege nach rechts, so bewegt sich aus der Perspektive der Fliege die Umgebung nach links an ihren Augen vorbei. Die optomotorische Reaktion führt folglich zu einer Kompensation des Windstoßes und bringt die Fliege wieder auf Kurs. Wissenschaftler vermuten schon seit langem, dass die Nervenzellen, die dieses Verhalten steuern, in der Lobula-Platte des Fliegengehirns zu finden sind. Ob diese Zellen jedoch notwendig sind, um die beobachteten Verhalten zu steuern, das blieb bisher unklar.

Wie Bewegungsinformationen im Fliegenhirn verarbeitet werden, das untersuchen Alexander Borst und seine Abteilung am Max-Planck-Institut für Neurobiologie. Um herauszufinden, ob die Lobula-Platte bei der optomotorischen Reaktion eine Rolle spielt, entwickelten die Neurobiologen eine Verhaltensapparatur: In einer virtuellen Umgebung präsentierten sie Fliegen ein rotierendes Streifenmuster, worauf diese eine deutliche optomotorische Reaktion zeigten. Blockierten die Wissenschaftler jedoch die Nervenzellen, von denen die Lobula-Platte ihre Informationen erhält, so war das Verhalten vollständig verschwunden. Die Fliegen waren somit bewegungsblind. Die Experimente zeigen, dass die Lobula-Platte ein notwendiges Element für die Kursstabilisierung der Fliege ist.

In der Natur müssen Fliegen jedoch neben Bewegungen auch andere Dinge verarbeiten können. War dies noch möglich? Als nächstes konzentrierten sich die Neurobiologen daher auf ein anderes, gut dokumentiertes Verhalten von Insekten, die sogenannte Objekt-Fixierung: Wird im Versuch ein einzelner vertikaler Streifen gezeigt, so drehen sich Fliegen auf den Streifen zu und versuchen ihn vor sich zu halten. Dieses Objekt-Fixieren ermöglicht es den Tieren sich einem Objekt zu nähern oder es „im Auge“ zu behalten. Im Versuch ließen die Wissenschaftler einen vertikalen Streifen langsam an unterschiedlichen Positionen im Blickfeld der Fliegen erscheinen und wieder verschwinden. Erschien der Streifen auf der rechten Seite der Fliege, drehten sich die Tiere nach rechts, erschien er links, drehten sie sich nach links. Kontrolliert das Bewegungsseh-System dieses Verhalten, dann sollten bewegungsblinde Tiere die Streifen nicht mehr fixieren können. Interessanterweise reagierten bewegungsblinde und Kontroll-Fliegen jedoch absolut gleich.

Die Wissenschaftler schlussfolgerten aus diesen Experimenten, dass es zusätzlich zum Bewegungs-Sehsystem noch ein unabhängiges Positions-Sehsystem geben muss. Bewegt sich ein kleines Objekt im Raum, entstehen lokale Helligkeitsveränderungen. Diese werden vom Positions-Sehsystem erfasst. So können bewegungsblinde Fliegen die Position eines Objekts immer noch erkennen, selbst wenn sie dessen Bewegung nicht mehr sehen.

„Es war sehr aufwändig, den Versuchsaufbau so hinzubekommen, dass die Ergebnisse wasserdicht sind“, erzählt Armin Bahl, der Erstautor der Studie. Bisher wurde angenommen, dass Zellen der Lobula-Platte sowohl für das Sehen von Bewegungen als auch für das Fixieren von Objekten zuständig sind. Diese Annahme haben die Wissenschaftler nun widerlegt und bereits wichtige Eigenschaften des Fixierungsverhaltens beschrieben. „Wir wissen noch nicht genau, wo die Zellen des Positions-Sehsystems im Fliegenhirn liegen, doch wir haben schon ein paar gute Kandidaten“, sagt Armin Bahl, und beschreibt so, in welche Richtung die Forschung nun weitergehen wird.

Ansprechpartner

Prof. Dr. Alexander Borst,
Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
Telefon: +49 89 8578-3251
Fax: +49 89 8578-3252
E-Mail: borst@­neuro.mpg.de
Dr. Stefanie Merker,
Max-Planck-Institut für Neurobiologie, Martinsried
Telefon: +49 89 8578-3514
E-Mail: merker@­neuro.mpg.de

Originalpublikation
Armin Bahl, Georg Ammer, Tabea Schilling, Alexander Borst
Object tracking in motion-blind flies
Nature Neuroscience, 28 April 2013

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Prof. Dr. Alexander Borst Max-Planck-Institut

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