Die Form entscheidet

Kohlenhydrate spielen eine wichtige Rolle bei einem weiten Spektrum physiologischer und pathologischer Prozesse. Mehrfachzucker beispielsweise auf der Oberfläche von Tumorzellen oder Krankheitserregern sind mögliche Angriffspunkte für eine Therapie oder eine Impfung. Allerdings gestaltet sich die Synthese kohlenhydrat-basierter Wirk- oder Impfstoffe sehr aufwändig. Zudem werden sie schlecht vom Organismus aufgenommen und meist viel zu rasch wieder abgebaut. Cyclopeptide (kleine ringförmige Eiweißmoleküle), die Mehrfachzucker in ihrer Struktur und damit in ihrer Funktion nachahmen, so genannte Glycomimetika, könnten eine interessante Alternative sein. Sie lassen sich leicht herstellen, sind relativ stabil und werden gut aufgenommen.

Einem Team aus Wissenschaftlern von den Universitäten Bielefeld und Hamburg ist es gelungen, Cyclopeptide herzustellen, die das Kohlenhydrat HNK-1 der humanen natürlichen Killerzellen nachahmen. HNK-1 ist in viele entwicklungsbiologische Prozesse des Nervensystems involviert. So verstärkt HNK-1 das Neuritenwachstum von Motoneuronen, das heißt das Wachstum der Nervenfasern von Nervenzellen der Muskulatur. HNK-1 wird entlang der Routen gefunden, denen die Nervenfasern nach einer Verletzung peripherer Nerven folgen.

Im ersten Schritt kämmten die Forscher um Norbert Sewald (Bielefeld) und Melitta Schachner (Hamburg) eine sehr große Zahl an linearen Peptidketten mit willkürlicher Aminosäuresequenz durch und suchten nach Peptiden, die von einem Antikörper gegen HNK-1 erkannt werden. Ausgehend von den Sequenzen zweier Treffer synthetisierten sie eine Serie verschiedener cyclischer Hexapeptide. Der Trick: In jedem Cyclopeptid wurde eine L-Aminosäure durch die entsprechende D-Aminosäure ersetzt. L-Aminosäuren sind die natürliche Form, die D-Variante ist ihr strukturelles Spiegelbild. Während ein „normales“ cyclisches Hexapeptid recht beweglich ist und seine räumliche Struktur ständig ändert, stabilisiert ein D-Aminosäure-Baustein eine bestimmte, bevorzugte Konformation des Rings. Das Peptid „präsentiert“ seine funktionellen Atomgruppierungen in einer vorhersagbaren dreidimensionalen Anordnung, die durch die Position der D-Aminosäure weitgehend festgelegt wird. Eine ähnlich stabilisierende Wirkung hat die Aminosäure L-Prolin. Daher wurden außerdem cyclische Hexapeptide mit diesem Baustein getestet.

Anhand ihrer Neigung, an den gegen HNK-1 gerichteten Antikörper zu binden, identifizierten Sewald und sein Team mehrere interessante Kandidaten. Einige nahmen sie näher unter die Lupe. Versuche mit Zellkulturen von Motoneuronen zeigten, dass zwei der getesteten Mimetika das Neuriten-Wachstum stimulierten. Dabei sind sie wirksamer als die linearen Peptidketten, die als Ausgangspunkt gedient hatten. Strukturaufklärung und Computersimulationen identifizierten eine spezielle räumliche Struktur der Cyclopeptide, die ausschlaggebend für deren Wirkung ist.

Substanzen, die in der Lage sind, die Regenerierung von Neuriten nach Verletzungen zu unterstützen, könnten ein vielversprechender Ausgangspunkt bei der Entwicklung einer Therapie querschnittsgelähmter Patienten sein. Die neuen Cyclopeptide könnten ein Schritt in diese Richtung sein.

Angewandte Chemie: Presseinfo 36/2006

Autor: Norbert Sewald, Universität Bielefeld (Germany), http://www.uni-bielefeld.de/chemie/oc3neu/

Angewandte Chemie 2006, 118, No. 39, doi: 10.1002/ange.200601579

Angewandte Chemie, Postfach 101161, 69495 Weinheim, Germany

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Dr. Renate Hoer idw

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