"Function follows form" – Therapien für krank machende Proteinfehlfaltungen

Bis vor kurzer Zeit konnten die zum Teil schweren Symptome des Leidens nur mit Hilfe einer strikten Diät verhindert werden. Dann gelang einem Forscherteam unter der Leitung von Professor Ania C. Muntau vom Dr. von Haunerschen Kinderspital der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München der Nachweis, dass der natürliche Kofaktor des defekten Enzyms auch bei normaler Kost bei mehr als jedem zweiten Patienten eine signifikante Verbesserung bewirkt.

In einer nun online im Fachmagazin American Journal of Human Genetics veröffentlichten Untersuchung konnte Muntau mit Kollegen zeigen, dass bestimmte genetische Veränderungen zu einer falschen dreidimensionalen Struktur des betroffenen Enzyms führen – das dann seine Funktionen nicht mehr erfüllen kann. „Auf Grundlage dieser Ergebnisse werden wir nun die Wirkung des Kofaktors auf die Proteinfaltung untersuchen, um letztlich individualisierte Therapien für die Patienten zu entwickeln“, meint Muntau. „In einem weiteren Projekt wollen wir dann Krankheiten identifizieren, die ebenfalls auf einer defekten Proteinfaltung beruhen. Wahrscheinlich lässt sich auch in anderen Fällen durch geeignete Moleküle eine Korrektur bewirken.“

Es ist fast wie beim Lotto: Voll funktionsfähig ist ein Protein nur, wenn es aus einer Vielzahl möglicher Faltungen seine jeweils spezifische Struktur ausbildet. Kommt es bei diesem sensiblen Prozess zu Fehlern, können die Folgen dramatisch sein. So kann eine fehlerhafte Faltung zur Bildung toxischer Proteinaggregate führen, etwa bei Alzheimer oder bei Parkinson. „Bei anderen Leiden führt die Fehlfaltung dagegen zu einem Funktionsverlust des betroffenen Proteins“, berichtet Muntau. „Die Phenylketonurie ist ein wichtiges Beispiel dafür und deshalb für die Wissenschaft interessant. Denn eine Störung der Raumstruktur der Proteine ist das gemeinsame Prinzip überraschend vieler genetischer Erkrankungen. Trotzdem fanden dieser Mechanismus und die Bedeutung einer defekten Proteinfaltung mit Funktionsverlust erst in jüngster Zeit verstärkt Beachtung.“ Das betrifft auch und vor allem genetische Erkrankungen im Kindesalter, die – jede für sich genommen – selten sind, in ihrer Summe aber eines von 500 Kindern betreffen.

Wie man weiß, führen genetische Veränderungen bei der Phenylketonurie zu einem Defekt des Enzyms Phenylalaninhydroxylase. Infolgedessen sammelt sich ein essentieller Proteinbaustein, die Aminosäure Phenylalanin, im Körper an. Unbehandelt kommt es dann von den ersten Lebensmonaten an zu einer verzögerten Entwicklung des Gehirns mit hochgradiger geistiger Behinderung und schwersten neurologischen Störungen. Diese Symptome treten mittlerweile nur noch selten auf, weil die Phenylketonurie als erste genetische Erkrankung überhaupt standardisiert bei Neugeborenen getestet wurde und damit in der Regel frühzeitig entdeckt wird. Die Betroffenen müssen dann lebenslang eine strenge Diät ohne die Aminosäure Phenylalanin – und damit nahezu ohne Eiweiß – einhalten. Daher war es als Durchbruch zu werten, als Muntaus Team zeigen konnte, dass pharmakologische Dosen des natürlichen Enzym-Kofaktors Tetrahydrobiopterin bei mindestens 60 Prozent der Patienten die schweren Symptome verhindern können – auch bei phenylalanin-haltiger Ernährung.

Eine nahe liegende Hypothese ist nun, die therapeutische Wirkung des Kofaktors auf eine Korrektur der Proteinfehlfaltung zurückzuführen. Doch der Wirkmechanismus ist noch ungeklärt – obwohl Tetrahydrobiopterin in den USA bereits als Medikament zur Behandlung der Phenylketonurie zugelassen ist. Im Rahmen der aktuellen Untersuchung konnten die Forscher um Muntau die Proteinfehlfaltung der Phenylalaninhydroxylase auf experimenteller Ebene nun aber erstmals direkt nachweisen. „Wir konnten zeigen, dass durch die genetischen Veränderungen eine Aminosäure, also ein Proteinbaustein, im Enzym durch eine andere Aminosäure ausgetauscht wird“, berichtet die Kinderärztin. „Dabei übt dieser Fehler nicht nur eine lokale Wirkung auf die Faltung des Proteins aus, sondern auch eine Fernwirkung auf die Struktur und Funktion des Enzyms. Überrascht hat uns, wie viele Funktionen des Enzyms durch einen einzelnen Aminosäureaustausch verändert werden können, wobei jede genetische Veränderung ihr ganz eigenes Muster an Störungen verursacht.“

Diese Resultate führen nun zu einer neuen Sichtweise der Funktion und auch der Fehlfunktion des Enzyms Phenylalaninhydroxylase, die vermutlich auch auf andere Proteine anwendbar ist. Demnach entstehen die Struktur und die Funktion von Proteinen nicht nur auf Grundlage ihrer funktionellen Domänen, also von Teilbereichen, die bestimmte Aufgaben übernehmen. Vielmehr ist das Zusammenspiel verschiedener funktioneller Einheiten entscheidend, die sich meist aus einer strukturell genau festgelegten Kombination mehrerer Proteinuntereinheiten mit jeweils mehreren Domänen ergeben. Doch der Weg dahin ist fehleranfällig. Schließlich werden Proteine zunächst in Form langer Ketten synthetisiert, die nicht nur selbst eine spezifische dreidimensionale Struktur einnehmen müssen, sondern sich oft – als Untereinheiten – in Kombination mit anderen Proteinen zusammenfinden müssen, um dann gemeinsam eine ebenfalls genau festgelegte, sogenannte Quartärstruktur zu bilden.

„So erklärt sich wiederum, wie Mutationen der Phenylalaninhydroxylase so weitreichende Konsequenzen haben können“, erklärt Muntau. „An sich bewirken diese Veränderungen meist ja nur eine geringe Störung der Enzymaktivität. Durch die Summe ihrer vielschichtigen Effekte auf verschiedene Funktionseinheiten des Proteins können sie aber ihre krankmachende Wirkung entfalten.“ In einem weiteren Projekt soll nun – auf der Basis dieser Resultate – geklärt werden, auf welchem Weg der Kofaktor wirkt und wie er dabei die Proteinfaltung beeinflusst. Die Forscher vermuten, dass Tetrahydrobiopterin als sogenanntes „Chaperon“ wirkt, also andere Proteine bei der Faltung unterstützt und dann stabilisiert. Eine derartige Funktion könnte erklären, warum hohe Dosen des Kofaktors zumindest in weniger schweren Fällen der Phenylketonurie der genetisch bedingten Fehlfaltung entgegenwirken.

Fraglich ist bis jetzt auch, bei welchen Veränderungen der therapeutische Effekt eintritt. „Erst wenn wir das wissen, können wir individuelle, auf jeden Patienten abgestimmte Behandlungen entwickeln“, sagt Muntau. „Zudem wollen wir an leicht abgeänderten Formen des Kofaktors mit erhöhter Wirksamkeit arbeiten. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Tetrahydrobiopterin auch für andere Enzyme als natürlicher Kofaktor fungiert. Denn nicht zuletzt geht es uns um die Identifikation von Erkrankungen, die ebenfalls auf defekter Proteinfaltung beruhen. Dazu gehören die genetisch bedingte Mukoviszidose, andere angeborene Stoffwechseldefekte, aber auch bestimmte Krebsleiden. Möglicherweise lässt sich ja auch auf diese Erkrankungen unser Therapiekonzept übertragen, also der Ausgleich der fehlerhaften Proteinfaltung durch jeweils spezifische Moleküle.“

Muntau leitet seit Mitte 2004 die auf sieben Jahre angelegte Arbeitsgruppe „Genetische Erkrankungen mit defekter Proteinfaltung: Entwicklung pharmakotherapeutischer Strategien“ im Rahmen des Bayerischen Genomforschungsnetzwerks BayGene, das Forscher mit herausragender Arbeit fördert, deren Ergebnisse auf direkt umsetzbare medizinische Anwendungen hoffen lassen. Kooperationen mit der Industrie sollen dabei einen schnellen Technologietransfer ermöglichen. „Wir erwarten, in Zusammenarbeit mit unseren Industriepartnern individualisierte Therapiekonzepte bei genetischen Defekten entwickeln zu können“, meint Muntau dazu. Muntaus Arbeitsgruppe wird zudem mit einem weiteren Projekt, das Protein-Protein-Wechselwirkungen untersucht, im Rahmen des Investitionsfonds gefördert, der eine ausgezeichnete Infrastruktur für exzellente Forschung an der LMU gewährleisten soll.

Publikation:
„Loss of function in phenylketonuria is caused by impaired molecular motions and conformational instability“, Soeren W. Gersting, Kristina F. Kemter, Michael Staudigl, Dunja D. Messing, Marta K. Danecka, Florian B. Lagler, Christian B. Sommerhoff, Adelbert A. Roscher, and Ania C. Muntau,

American Journal of Human Genetics, online am 5. Juni 2008

Ansprechpartner:
Professor Dr. Ania C. Muntau
Abteilung Molekulare Pädiatrie am
Dr. von Haunerschen Kinderspital der LMU
Tel.: 089 / 5160 – 2746
Fax: 089 / 5160 – 7792
E-Mail: ania.muntau@med.uni-muenchen.de

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Weitere Informationen:

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