Wachkoma häufig falsch diagnostiziert

Derzeit prognostizieren Ärzte den Bewusstseinszustand mithilfe einer komplexen Skala, die unter anderem visuelle und motorische Funktionen erfasst. Dieser Goldstandard wird aber noch zu selten angewendet, bemängeln Experten der Deutschen Gesellschaft für Klinische Neurophysiologie und funktionelle Bildgebung (DGKN). Zudem könnten neurophysiologische Methoden dieses Verfahren ergänzen, um Patienten mit einem minimalen Bewusstsein sicher zu identifizieren, so das Ergebnis einer aktuellen Studie.

Zirka 1 500 bis 5 000 Wachkoma Patienten leben in Deutschland. Experten sprechen vom Syndrom der reaktionslosen Wachheit (SRW). Nach einer schweren Hirnschädigung öffnen sie wieder die Augen, lassen aber weder Bewusstsein noch Kontaktfähigkeit erkennen.

Zeigen solche Patienten bewusste Wahrnehmungen, zum Beispiel gezielte Augenbewegungen, befinden sie sich nicht mehr im Wachkoma, sondern im sogenannten minimalen Bewusstseinszustand, auch Syndrom des minimalen Bewusstseins (SMB) genannt.

In der derzeitigen klinischen Versorgungsrealität sei die Abgrenzung zwischen Wachkoma und SMB jedoch schwierig, sagt der DGKN-Experte Dr. med. Andreas Bender vom Therapiezentrum Burgau. „Studien belegen eine hohe Rate an Fehldiagnosen von bis zu 40 Prozent.“

Für die Therapie könne diese Fehldiagnose schwerwiegende Folgen haben. „Wir vermuten, dass viele SMB-Patienten, die für Wachkoma-Patienten gehalten werden, unter der fehlenden persönlichen Ansprache leiden“, so Bender. Einige werden daher verfrüht palliativ behandelt.

„Die Ärzte versuchen nur noch das Leiden des vermeintlichen Wachkoma-Patienten zu reduzieren, anstatt sämtliche therapeutischen Möglichkeiten auszuschöpfen“, kritisiert der DGKN-Experte.

Mit der aktuellen Metastudie zeigt das Forscherteam um Bender, dass elektrophysiologische Verfahren solche Fehldiagnosen reduzieren können. Für die Analyse hatten die Neurophysiologen 20 klinische Studien mit 436 Wachkoma- und 470 SMB-Patienten ausgewertet, deren Hirnaktivität unter anderem mit funktioneller Magnetresonanztomographie (fMRT) und quantitativer Elektroenzephalographie (qEEG) gemessen worden war.

Beide Methoden zeigen, ob Patienten sich bestimmte Bewegungen, etwa Tennisspielen, vorstellen können, wenn man sie dazu auffordert. Sowohl in den fMRT- als auch in den EEG-basierten Studien konnten 10 bis 24 Prozent der Wachkoma-Patienten solche Aufgaben befolgen. Diese Patienten wären also nicht als Wachkomapatienten, sondern als SMB-Patienten mit wenigstens partiell erhaltenem Bewusstsein einzustufen und zwar trotz der gründlichen standardisierten Untersuchung.

„Mit dem derzeitigen Goldstandard für die Wachkoma-Diagnose, der sogenannten revidierten Coma Recovery Scale (CRS-R), lassen sich solche Bewegungsvorstellungen nicht nachweisen“, erklärt Professor Dr. med. Andreas Straube vom Klinikum der Universität München die Ursache der Fehldiagnosen. Denn die CRS-R erfordert, dass Patienten sich tatsächlich bewegen. Dennoch bleibt diese klinische Einstufung derzeit der Goldstandard der Diagnostik.

„Es gibt aber auch Patienten, die zwar bei Bewusstsein sind, aber keinen Zugriff auf ihr motorisches System haben“, so Bender. Besser geeignet seien für diese Patienten möglicherweise neurophysiologische Verfahren. „Am genauesten konnte der Bewusstseinszustand mit dem qEEG erkannt werden“, erklärt der DGKN-Experte die aktuellen Ergebnisse. Um diese Methode korrekt anzuwenden, bedarf es jedoch einer speziellen Ausbildung. Die DGKN bietet eine EEG-Fortbildung an, die als Basis für die Anwendung des qEEG gilt. 

Die nächste schriftliche EEG-Prüfung findet am 31. Oktober 2015 statt.

Quelle:
Bender et al. „Wachkoma und minimaler Bewusstseinszustand: Systematisches Review und Metaanalyse zu diagnostischen Verfahren“, Dtsch Arztebl Int 2015; 112(14): 235-42; DOI: 10.3238/arztebl.2015.0235: http://www.aerzteblatt.de/archiv/169015/Wachkoma-und-minimaler-Bewusstseinszusta…

Weitere Informationen:
EEG-Prüfung der DGKN: http://www.dgkn.de/aktuelles/termine/
revidierte Coma Recovery Scale (CRS-R): http://www.coma.ulg.ac.be/medical/chronic.html

Kontakt für Journalisten:
Kathrin Gießelmann
DGKN Pressestelle
Postfach 30 11 20
70451 Stuttgart

Berliner Büro:
Langenbeck-Virchow-Haus
Luisenstraße 59
10117 Berlin
Tel: 0711 8931-981
Fax: 0711 8931-167
gießelmann@medizinkommunikation.org

http://www.dgkn.de

Media Contact

Medizin - Kommunikation idw - Informationsdienst Wissenschaft

Alle Nachrichten aus der Kategorie: Medizin Gesundheit

Dieser Fachbereich fasst die Vielzahl der medizinischen Fachrichtungen aus dem Bereich der Humanmedizin zusammen.

Unter anderem finden Sie hier Berichte aus den Teilbereichen: Anästhesiologie, Anatomie, Chirurgie, Humangenetik, Hygiene und Umweltmedizin, Innere Medizin, Neurologie, Pharmakologie, Physiologie, Urologie oder Zahnmedizin.

Zurück zur Startseite

Kommentare (0)

Schreiben Sie einen Kommentar

Neueste Beiträge

Neue Industrie-4.0-Lösung für niedrigschwelligen Zugang zu Datenräumen

»Energizing a Sustainable Industry« – das Motto der Hannover Messe 2024 zeigt klar, wie wichtig eine gleichermaßen leistungsstarke und nachhaltige Industrie für den Fertigungsstandort Deutschland ist. Auf der Weltleitmesse der…

Quantenpräzision: Eine neue Art von Widerstand

Physikforschende der Universität Würzburg haben eine Methode entwickelt, die die Leistung von Quantenwiderstands-Normalen verbessern kann. Sie basiert auf einem Quantenphänomen namens anomaler Quanten-Hall-Effekt. In der industriellen Produktion oder in der…

Sicherheitslücke in Browser-Schnittstelle erlaubt Rechnerzugriff über Grafikkarte

Forschende der TU Graz waren über die Browser-Schnittstelle WebGPU mit drei verschiedenen Seitenkanal-Angriffen auf Grafikkarten erfolgreich. Die Angriffe gingen schnell genug, um bei normalem Surfverhalten zu gelingen. Moderne Websites stellen…

Partner & Förderer