Unaufmerksamkeit und Fehler: Ehemalige Frühchen haben es schwer

Kinder, die zu früh geboren werden, haben noch im Alter von sechs Jahren Aufmerksamkeitsprobleme und kognitive Defizite. Das hat Dr. Nina Gawehn in ihrer Dissertation am Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie der Ruhr-Universität Bochum (Prof. Dr. Axel Schölmerich) herausgefunden.

Sie empfiehlt daher eine gezielte Frühförderung zu früh geborener Kinder, auch wenn keine schweren neurosensorischen Einschränkungen festzustellen sind. Die Dissertation ist in Druck und wird ab Sommer im Buchhandel erhältlich sein.

Erster differenzierter Test

In Deutschland werden jedes Jahr ca. 50 000 Kinder zu früh, d.h. vor Ende der 37. Schwangerschaftswoche, geboren ? ein Risiko für die physische und psychische Entwicklung eines Kindes. Während bisherige Studien die Aufmerksamkeitsstörungen Frühgeborener überwiegend durch Selbstauskünfte, Eltern-, Lehrerfragebögen und Interviews erfassten, führte Nina Gawehn eine differenzierte neuropsychologische Erfassung der Aufmerksamkeitsleistungen durch.

Sie ließ 36 ehemaligen frühgeborene Schul- und Vorschulkinder und 29 Reifgeborene im Alter von sechs Jahren und ein Jahr später einen Aufmerksamkeitstest absolvieren, bei dem sie entweder auf einen dargebotenen Reiz reagieren mussten oder nur auf einen bestimmten von zwei verschiedenen Reizen reagieren mussten. Um eine Vermischung der Aufmerksamkeitsleistung mit der allgemeinen kognitiven Entwicklung zu vermeiden, berücksichtigte Nina Gawehn den IQ als Kontrollvariable. Ergänzend erfasste sie auch vordiagnostizierte Entwicklungsstörungen, Verhaltensprobleme im Eltern- und Lehrerurteil sowie die elterliche Zufriedenheit.

Mehr ADS und ADHS, mehr soziale Probleme

Im Vergleich zu den Reifgeborenen stellte Gawehn bei den Frühgeborenen einen verminderten allgemeinen kognitiven Entwicklungsstand fest. Besonders schlecht schnitten extrem früh geborene Kinder ab, die vor der 28. Woche geboren worden waren. Bei ihnen zeigten sich auch mehr soziale Verhaltensprobleme. Die elterliche Zufriedenheit hing vom kognitiven Entwicklungsstand ab. Frühgeborene waren im Vergleich zu den Reifgeborenen im Vorschulalter deutlich häufiger von ADHS und ADS betroffen. Es ließ sich jedoch ? im Vergleich zu den Reifgeborenen ? kein signifikant erhöhtes Vorkommen des vorwiegend hyperaktiv-impulsiven Subtyps ohne Aufmerksamkeitsstörung belegen.

Langsamer und fehleranfälliger

Unabhängig vom kognitiven Entwicklungsstand zeigten Früh- und extrem Frühgeborene im Vergleich zu ihren reifgeborenen Altersgenossen langsamere und variablere Leistungsgeschwindigkeiten in allen untersuchten Aufmerksamkeitsfunktionen. Auch zeigten sie weniger Treffer/richtige Reaktionen oder ließen Reaktionen auf dargebotene Reize aus. ?Da sie bei vorhandenem Reiz häufig gar nicht reagierten, gehen wir davon aus, dass sie Reaktionen langsamer initiieren?, sagt Nina Gawehn. ?Zusammenfassend weisen Frühgeborene im Alter von sechs Jahren unabhängig von ihrer Intelligenz schwächere Aufmerksamkeitsleistungen auf als Reifgeborene.? Der Reaktionsstil der Frühgeborenen weicht aber vom bekannten ?typischen? Reaktionsstil eines Kindes mit ADHS ab: ?Man weiß, dass Kinder mit ADHS viele falsche Reaktionen und ein schnelles Reaktionstempo im neuropsychologischen Testverfahren zeigen. Bei Frühgeborenen zeigten sich im Aufmerksamkeitstest aber keine Defizite in der Reaktionsinhibition. Vielmehr stehen eine verlangsamte und instabile Reaktionsgeschwindigkeit sowie eine durch erhöhte Auslassungen verringerte Leistungsgüte im Vordergrund.?

Zweiter Test: mehr Treffer, weniger Auslasser

Bei der Nachuntersuchung ein Jahr später konnte Nina Gawehn bei den Frühgeborenen keine Aufholentwicklung im kognitiven Bereich feststellen. Allerdings beobachtete sie eine Veränderung der Aufmerksamkeitsleistungen: So verbesserte sich die Reaktionsgeschwindigkeit und die Reaktionsschwankungen nahmen ab. Die untersuchten Kinder verzeichneten bei der zweiten Untersuchung mehr Treffer und weniger Auslasser, machten aber auch mehr Fehler. ?Dieser Befund lässt auf eine Kompensation schließen?, sagt Gawehn. ?Sie könnte die Folge eines durch Lernerfahrung veränderten Reaktionsstils oder das Ergebnis von Nachreifung oder Plastizität des Gehirns der ehemaligen Frühgeborenen sein. Genaue Mechanismen sind noch nicht geklärt.?

Empfehlung: Individuelle Aufmerksamkeitsförderung

Der Rat der Expertin: Frühgeborene mit Aufmerksamkeitsstörungen sollten eine spezifische und individuelle Aufmerksamkeitsförderung erhalten, welche die gestörten Teilaspekte fokussiert. Zwar lasse sich zurzeit noch nicht sicher klären, ob es sich bei einigen Frühgeborenen mit Aufmerksamkeitsstörung um eine Verzögerung oder ein bleibendes Defizit handelt. Die bleibende erhöhte Unzufriedenheit der Eltern bei unterdurchschnittlicher Entwicklung einerseits und die sozialen Probleme der Frühgeborenen andererseits verdeutlichten aber die Notwendigkeit therapeutischer Unterstützung. ?Die Vielfalt der möglichen Folgen macht eine ganzheitliche Betrachtungsweise der Entwicklung Frühgeborener notwendig?, unterstreicht Nina Gawehn. ?Eine zusätzliche Untersuchung ehemaliger Frühgeborener vor der Einschulung könnte als Ergänzung zu den Nachuntersuchungen Frühgeborener mit Hilfe entwicklungsdiagnostischer Verfahren, die in deutschen Perinatalzentren durchgeführt werden, nützlich sein.? Diese sollte neben neuropädiatrischem Status, allgemeiner kognitiver Entwicklung und Aufmerksamkeitsleistungen auch Verhaltensanpassung, elterliche Lebenszufriedenheit und Belastung erfassen. Da in der vorliegenden Untersuchung auch Frühgeborene, welche nach der 32. Schwangerschaftswoche geboren wurden, Aufmerksamkeitsstörungen aufwiesen, sollten auch Kinder mit eher mäßigem Risiko in Nachuntersuchungen eingeschlossen werden.

Titelaufnahme

Gawehn, N. (im Druck) ?Die Entwicklung ehemaliger frühgeborener Kinder – Aufmerksamkeitsleistungen ehemaliger Frühgeborener im Schul- und Vorschulalter?. Hamburg: Verlag Dr. Kova?.

Weitere Informationen

Dr. Nina Gawehn, Psychologin im Sozialpädiatrischen Zentrum/Neuropädiatrie, Klinikum Dortmund gGmbH, Nina.Gawehn@klinikumdo.de

Prof. Dr. Axel Schölmerich, Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie, Ruhr-Universität Bochum, Tel. 0234/32-22672, axel.schoelmerich@rub.de

Redaktion: Meike Drießen

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Weitere Informationen:

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