Schreddern mit System – Proteinrecycling für Immunabwehr

Mithilfe innovativer Computerprogramme und biochemischer Experimente identifizierten und quantifizierten Forschende Fragmente, die der zelluläre Müllschlucker – das Proteasom – beim Proteinrecycling erzeugt und auch neu zusammenfügt.
(c) Hanna Rötschke / Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften

Die Abfallanlage lebender Zellen, das Proteasom, zerkleinert nicht nur ausgediente oder beschädigte Proteine. Es unterstützt das Immunsystem auch dabei, Krebszellen oder infizierte Zellen zu erkennen, indem es Proteinschnipsel – sogenannte Immunpeptide – produziert. Ein Team um Juliane Liepe am Max-Planck-Institut (MPI) für Multidisziplinäre Naturwissenschaften hat nun in einer internationalen Kooperation den Proteinabbau durch das Proteasom im Labor nachgestellt und die dabei gebildeten Peptide identifiziert und quantifiziert. Der damit erzeugte Datensatz könnte zukünftig dazu beitragen, Immunpeptide vorherzusagen und neue Impfstoffe gegen Infektionskrankheiten oder Krebs zu entwickeln.

Kreislaufwirtschaft und Recycling – in heutigen Zeiten ein Topthema. Was in unserem Alltag oft nicht ganz rund läuft, haben lebende Zellen bereits perfektioniert: Das Proteasom als Recycling-Anlage zerkleinert nicht mehr benötigte oder schadhafte Proteine. Die dabei entstehenden Peptide können dann als Bausteine für neue Proteine verwendet oder an die Zelloberfläche gebracht werden, wo sie als „Signalflaggen“ für unser Immunsystem dienen. Bestimmte Zellen unserer Immunabwehr prüfen, ob diese körpereigen oder fremd sind. „Anhand der unbekannten Peptide erkennen sie: Hier stimmt etwas nicht! Immunzellen können so zwischen gesunden und infizierten oder krebsartigen Zellen unterscheiden“, erklärt Juliane Liepe, Forschungsgruppenleiterin am MPI für Multidisziplinäre Naturwissenschaften. Das Immunsystem kann anschließend die befallenen Zellen oder Krebszellen zerstören.

Recycling unter der Lupe

Doch das Proteasom zerlegt nicht nur Proteine zu kleineren Peptiden. Es kann auch mehrere von ihnen wieder zusammenfügen. Dieser Vorgang wird Peptid-Spleißen genannt. Eine beträchtliche Anzahl der Peptide, die dem Immunsystem präsentiert werden, sind solche gespleißten Varianten.

Die Forschungsgruppe Quantitative und System-Biologie um Liepe interessiert sich besonders für die Frage, welche gespleißten Peptide zur Immunabwehr beitragen und nach welchen Regeln das Proteasom diese erzeugt. „Kennt man beispielsweise die gespleißten Tumorpeptide, die Krebszellen dem Immunsystem präsentieren, können sich diese zukünftig möglicherweise für Immuntherapien nutzen lassen. Dazu müssen wir wissen, welche spezifischen Peptide das Proteasom produziert und welche Bedeutung diese haben“, erklärt die Bioinformatikerin.

Um den Prozess des Peptid-Spleißens besser zu verstehen, stellten die Forschenden im Laborexperiment nach, wie das Proteasom ganze Proteine abbaut und bestimmte die dabei erzeugten Peptide qualitativ und quantitativ. Für dieses umfangreiche Projekt kooperierte das Forschungsteam eng mit Wissenschaftler*innen vom Francis Crick Institute und dem King’s College London (Großbritannien), der National University of Singapore sowie Teams um Stefan Becker, Ashwin Chari und Henning Urlaub am MPI. Zusammen konnten sie so den größten bekannten Datensatz von Peptiden erzeugen, die vom Proteasom unter Laborbedingungen aus Proteinen produziert werden.

Neben biochemischen Experimenten und Massenspektrometrie-Methoden nutzten die Forschenden auch computergestützte Verfahren, zum Teil basierend auf maschinellem Lernen. „Wir haben unter anderem neue Computerprogramme entwickelt, um nicht-gespleißte und gespleißte Peptide zu identifizieren und quantifizieren“, erzählt Liepe.

Von wegen zufällig

Anhand ihrer Daten sind die Wissenschaftler*innen einigen Geheimnissen des Proteasoms auf die Schliche gekommen. Weder das Zerschneiden noch Zusammenfügen von Peptiden geschieht zufällig. „Wir fanden heraus, dass das Proteasom bevorzugt bestimmte Proteinbereiche verarbeitet“, erklärt Michele Mishto, Leiter der Londoner Forschungsgruppe. „Das liegt unter anderem an Präferenzen des Proteasoms für gewisse Abfolgen der Proteinbausteine“, berichtet Wai Tuck Soh. „Außerdem entdeckten wir eindeutige Merkmale, wie sich gespleißte von nicht-gespleißten Peptiden unterscheiden“, ergänzt Hanna Rötschke, die neben Soh und John Cormican Erstautorin der jetzt im Fachmagazin Nature Communications erschienenen Arbeit ist.

„Wenn wir wissen, wie das Proteasom Immunpeptide erzeugt, können wir Peptid-Spleißen vorhersagen. Diese Vorhersagen könnten in Zukunft wiederum dabei unterstützen, neuartige Impfstoffe gegen Krebs oder Infektionskrankheiten zu entwickeln“, so die Max-Planck-Forschungsgruppenleiterin Liepe.

Wissenschaftliche Ansprechpartner:

Dr. Juliane Liepe
Forschungsgruppe Quantitative und System-Biologie
Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften, Göttingen
Tel.: +49 551 201-1471
E-mail: juliane.liepe@mpinat.mpg.de

Originalpublikation:

Soh, W. T.; Roetschke, H. P.; Cormican, J. A.; Teo, B. F.; Chiam, N. C.; Raabe, M.; Pflanz, R.; Henneberg, F.; Becker, S.; Chari, A.; Liu, H.; Urlaub, H.; Liepe, J.; Mishto, M.: Protein degradation by human 20S proteasomes elucidates the interplay between peptide hydrolysis and splicing. Nature Communications 15, 1147 (7. Februar 2024).

Weitere Informationen:

https://www.mpinat.mpg.de/4623944/pr_2406 – Original-Pressemitteilung
https://www.mpinat.mpg.de/de/liepe – Webseite der Forschungsgruppe Quantitative und System-Biologie, Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften, Göttingen

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