Schädelhirnverletzungen / Mitten drin statt nur am Rand der Gesellschaft

Deutschland braucht bessere Therapieangebote und Wiedereingliederungshilfen für Menschen mit Schädelhirnverletzungen.

Dazu muss aus dem Sozialgesetzbuch IX, das die Rehabilitation regelt, verbindliches Recht werden – ein sogenanntes Teilhabesicherungsgesetz, dass es Menschen mit Behinderungen ermöglicht, ihre Ansprüche vor den Sozialgerichten einzuklagen. Zudem fordern Mediziner, Psychologen, Patienten mit Schädelhirnverletzungen und ihre Angehörigen, ambulante Rehabilitationsangebote flächendeckend auszubauen.

Das sind die Ergebnisse des 4. Nachsorgekongresses der Arbeitsgemeinschaft Teilhabe, Rehabilitation, Nachsorge und Integration nach Schädelhirnverletzung in Bonn. Über 200 Experten diskutierten dort zwei Tage lang darüber, wie sich die Nachsorge von Hirnverletzten verbessern lässt, welche spezifischen Probleme nach der Rehabilitation auftreten und wie Angehörige mit der Belastung umgehen können, die ein Pflegefall durch Hirnverletzung in der Familie bedeutet. „Seit März ist in Deutschland die UN-Behindertenkonvention bindendes Recht und ergänzt bestehende gesetzliche Regelungen“, sagte Dr. Matthias Schmidt-Ohlemann, Vorsitzender der Deutschen Vereinigung für Rehabilitation e.V. (DVfR) in Heidelberg.

„Teilhabe ist ein Menschenrecht. Wir müssen dafür sorgen, dass nicht die Betroffenen der Hilfe hinterherlaufen müssen, sondern vielmehr die Hilfen die Betroffenen einholen und ihnen geben, was sie brauchen“, sagte auch der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe (CDU), auf dem Kongress. „Betroffene haben häufig genügend sozialrechtlich verbriefte Rechte. Doch oft hapert es in der Praxis an deren Umsetzung.“ Rehabilitationsexperten und die anwesenden behindertenpolitischen Sprecher der Bundestagsfraktionen waren sich darin einig, dass noch in dieser Legislaturperiode das Sozialgesetzbuch IX, das die Rehabilitation und Teilhabe regelt, in ein Teilhabesicherungsgesetz umgewandelt werden muss. Betroffene können dann ihre Reha- und Teilhabeansprüche vor Gericht einklagen.

Alle zwei Minuten erleidet in Deutschland ein Mensch eine Schädelhirnverletzung – zum Beispiel durch einen Unfall, einen Sturz oder einen Schlaganfall. Über 20 Prozent von ihnen sind Kinder unter zehn Jahren. Insgesamt leben in Deutschland über 800.000 Menschen mit Beeinträchtigungen durch Schädelhirnverletzungen, Kranke mit Folgen eines Schlaganfalls oder einer neurologischen Erkrankung noch nicht mit eingerechnet.

Für die meisten von ihnen ändert sich das Leben radikal: Sie bleiben ihr Leben lang auf Pflege angewiesen, etwa, weil sie im Rollstuhl sitzen, an spastischen Lähmungen leiden oder nicht mehr sprechen können. Anderen sieht man ihre Behinderung nicht an.

Doch Persönlichkeitsveränderungen, Gedächtnisstörungen oder Aufmerksamkeitsdefizite erschweren es ihnen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden.

„Die Akutversorgung und erste Rehabilitation laufen gut, aber anschließend fallen die Betroffenen und ihre Angehörigen in ein Versorgungsloch“, kritisiert der Neurologe Dr. Dr. Paul Reuther. „Es gibt hervorragende, meist stationäre Schwerpunkteinrichtungen der Rehabilitation. In Wohnortnähe, zu Hause und am Arbeitsplatz, wo das wirkliche Leben stattfindet, ist rehabilitative Kompetenz und Integrationshilfe jedoch nicht verfügbar“, kritisiert der Experte.

Schädelhirnverletzte und ihre Angehörigen bekommen dies nach der Entlassung zu spüren. „In dieser Zeit entsteht medizinisch, psychisch und sozial ein Chaos: Familien fliegen auseinander, Betroffene verlieren ihren Arbeitsplatz und ihre Freunde“, weiß der ärztliche Leiter des ambulanten neurologischen Rehabilitationscentrums Ahrweiler und Vorsitzender des Bundesverbandes ambulant-teilstationäre Neurorehabilitation (BV ANR e.V.).

Loch im sozialen Netz

Zum Beispiel Familie Ritter. „Das soziale Netz hat ein Loch“, stellt Heidrun Ritter fest. Ihr Sohn Torsten ist nach einem Autounfall hirnverletzt und sitzt im Rollstuhl. Sie erlebte seine Entlassung aus der Klinik wie einen Schock. „Im September 2001 hieß es, wir werden jetzt entlassen. Dabei hatten uns die Ärzte zuvor versichert, dass Torsten bleiben kann, so lange er Fortschritte macht

– und die hat er gemacht.“ Neben organisatorischen Problemen hatten die Ritters Schwierigkeiten, einen Hausarzt zu finden, der die notwendigen Medikamente und Therapien verschrieb. „So ein Fall belastet nur das Budget, hieß es“, erinnert sich Heidrun Ritter. „Wir hatten keine Ahnung, was unserem Sohn an Pflegegeld, Therapien und Ähnlichem zusteht und welche Anträge wir wo stellen mussten. Nach 16 Stunden Pflegearbeit fällt es schwer, noch Sozialgesetzbücher zu lesen, geschweige denn zu verstehen.“ Für Angehörige wie sie fordert die Arbeitsgemeinschaft Teilhabe mehr und bessere Informationen, Betreuung und Entlastung.

Fallmanager verbessern die Betreuung

Immer wieder müssen Angehörige wie Heidrun Ritter für „ihre“
Patienten mühsam Therapien und Kostenübernahmen erkämpfen. Denn über den Bedarf an Therapien von Schädelhirnverletzten herrscht häufig keine Einigkeit zwischen Experten und Kostenträgern wie Kranken- oder Rentenversicherung.

Experten fordern deshalb für Schädelhirnverletzte ein durchgängiges Fallmanagement: „Was fehlt, ist ein Kümmerer, jemand, der Betroffene nach ihrer Entlassung begleitet und zum Beispiel auch darauf achtet, welche sozialrechtliche Ansprüche bestehen“, sagt Achim Ebert, Sprecher der Arbeitsgemeinschaft Teilhabe, die zum vierten Mal den Nachsorgekongress organisiert hat.

Ein solcher Lotse koste zwar zunächst Geld. Auf der anderen Seite spart eine individuelle, langfristige Betreuung auch Kosten, weil sie hilft, Betroffene wieder in Arbeit zu vermitteln. Für Menschen, die während der Arbeit oder auf dem Weg dorthin verunglücken, oder privat Unfallversicherte gibt es solche Fallmanager bereits. Doch wer in der Freizeit eine Schädelhirnverletzung erleidet, steht nach Ende der Rehabilitation häufig allein da. Betroffene brauchen aber eine Langzeitperspektive, denn Rehabilitation und Reintegration in die Gesellschaft sind langfristige Prozesse, die unter Umständen ein Leben lang andauern.

„Idealerweise formuliert ein Expertenteam aus Ärzten, Therapeuten, Betroffenen und Angehörigen gemeinsam mit den Kostenträgern konkrete individuelle Ziele“, sagt Professor Dr. Wolfgang Fries, Neurologe in der Praxis zur neurologischen Komplexbehandlung in München. „Am Luzerner Kantonsspital läuft bereits seit 15 Jahren ein entsprechendes Modellprojekt, das zeigt, dass ein solches System nicht nur die Rehabilitation und Teilhabe verbessert, sondern auch den bürokratischen Aufwand senkt.“ Solche gemeinsamen Entscheidungen am runden Tisch könnten auch helfen, Therapien zeitnah anzubieten, denn derzeit müssen Betroffene teilweise monatelang auf eine Entscheidung zur Kostenübernahme warten. In dieser Zeit geht jedoch wertvolles Reha-Potenzial verloren.

Eigener Behindertenstatus

Darüber hinaus fordert die Arbeitsgemeinschaft Teilhabe, Schädelhirnverletzungen als eigenen Behindertenstatus anzuerkennen.

„Wenn jemandem ein Arm fehlt oder einer im Rollstuhl sitzt, sieht das jeder. Doch viele Schädelhirnverletzte sehen zum Teil sehr normal aus, haben aber dennoch manchmal massive Probleme, sich im Alltag zurechtzufinden“, erklärt Achim Ebert. Die Arbeitsgemeinschaft hofft, dass ein eigener Behindertenstatus Entscheidungsträgern bei Behörden und Versicherungen hilft, zu verstehen, welche spezifischen Einschränkungen die Betroffenen haben. Zudem versprechen sich Angehörige und Betroffene davon mehr Akzeptanz und Verständnis in der Gesellschaft.

Arbeitsgemeinschaft Teilhabe Rehabilitation, Nachsorge und Integration nach Schädelhirnverletzung

– BAG Nachsorge erworbener Hirnschäden bei Kindern und
Jugendlichen
– BDH Bundesverband Rehabilitation e.V.
– Bundesverband ambulant/teilstationäre Neurorehabilitation e.V.
– SelbsthilfeVerband – FORUM GEHIRN e.V.
– Gesellschaft für Neuropsychologie (GNP) e.V.,
– SHG „Hirnverletzte und Angehörige“ Hamburg und Umgebung
– ZNS – Hannelore Kohl Stiftung

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