Rezession ist größtes Risiko – IMK: Inflationsgefahr in Europa wird deutlich überschätzt

IMK: Inflationsgefahr in Europa wird deutlich überschätzt

Ein deutlicher Anstieg der Inflation in Deutschland oder im Euroraum ist kurz- und mittelfristig sehr unwahrscheinlich. Weder die expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) noch die Konjunkturprogramme stellen derzeit ein ernsthaftes Risiko für die Geldwertstabiliät dar.

Zudem sind trotz der besseren konjunkturellen Entwicklung keinerlei Indizien für Lohn-Preis-Spiralen zu entdecken. Auch der starke Anstieg der Staatsverschuldung durch die Krise erzeugt in Deutschland keinen Inflationsdruck, da die schuldenfinanzierten Ausgaben überwiegend bereits getätigt wurden. Trotzdem müssen die EU-Staaten ihre Verschuldung mittelfristig reduzieren.

Dieses Ziel wird aber gerade nicht erreicht, wenn alle Länder gleichzeitig auf einen Sparkurs einschwenken. Dann wächst die Gefahr, dass vor allem die südeuropäischen Euro-Länder, aber auch der Euroraum insgesamt, erneut in eine Rezession und in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Die Folge könnte eine länderübergreifende Staatsschuldenkrise im Euroraum sein. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Untersuchung des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung, die heute als IMK Report erscheint.*

„Es ist nachvollziehbar, dass die Deutschen Angst vor Inflation haben. Die Hyperinflation von 1923 und die Währungsreform in der Nachkriegszeit stecken tief in unserem kollektiven Bewusstsein“, sagt Prof. Dr. Gustav A. Horn, der Wissenschaftliche Direktor des IMK. „Aber unsere Analyse zeigt, dass diese Sorgen derzeit zum Glück keine ökonomische Basis haben. Die Inflationsgefahr wird deutlich überschätzt. Das kann zum Problem werden, wenn es den Blick auf andere, größere Gefahren verstellt.“

In ihrer Untersuchung prüfen Dr. Silke Tober, IMK-Expertin für Geldpolitik, und Dr. Till van Treeck systematisch, ob aktuell von den Finanzmärkten, der Lohnpolitik und den Staatsdefiziten Inflationsgefahren ausgehen oder nicht:

– Die EZB: Großer Instrumentenkasten gegen Inflation –

Immer wieder wird die expansive Geldpolitik der großen Zentralbanken als mögliches Inflationsrisiko genannt. Das gilt auch für das Vorgehen der EZB, die den Leitzins auf ein Prozent gesenkt, die Banken offensiv mit Liquidität ausgestattet und Staatspapiere aufgekauft hat. Doch bislang geht vom Anti-Krisen-Kurs der EZB kein Inflationsdruck aus, betonen die Wissenschaftler. Da die Euro-Staaten trotz wirtschaftlicher Erholung noch nicht das Vorkrisenniveau bei der Wirtschaftsleistung erreicht haben, seien die eingesetzten Instrumente, insbesondere das niedrige Zinsniveau, voll angemessen: „Bisher hat es zusammen mit den Konjunkturprogrammen dafür gesorgt, dass die Wirtschaft anders als in der Weltwirtschaftskrise der 30er Jahre nicht in eine große Depression glitt“, schreiben Tober und van Treeck. Als Indizien für die Inflations-Unschädlichkeit der EZB-Strategie führen sie an:

• Die Bereitstellung von Liquidität für die Banken stabilisierte die Geldhäuser, sie führte aber bisher weder zu einem starken Anstieg der Kredite noch der Geldmenge M3. So ging die Kreditvergabe an nichtfinanzielle Kapitalgesellschaften im September immer noch zurück – um 0,6 Prozent. Erst eine deutliche Ausweitung der Kreditvergabe könnte aber überhaupt erst die Nachfrage anheizen und die Inflation beschleunigen.

• Die Wissenschaftler sind überzeugt, dass die EZB problemlos reagieren kann, wenn sich die Lage am Interbankenmarkt und die Konjunktur soweit verbessern sollten, dass eine Preisbeschleunigung droht. Die auf die unkonventionelle Geldpolitik zurückzuführende hohe Liquidität kann die EZB auf verschiedene Weise verringern. Begonnen hat sie damit bereits, indem sie die Geschäfte mit langer Laufzeit auslaufen lässt. Darüber hinaus könnte sie insbesondere die Offenmarktgeschäfte wieder mengenmäßig begrenzen, die Einlagenfazilität und Termineinlagen höher verzinsen oder Wertpapiere verkaufen. Ihr primäres Instrument ist weiterhin der Leitzins.

– Staatsschulden: Kein direkter Einfluss auf Geldentwertung –

Die Finanz- und Wirtschaftskrise hat die öffentliche Verschuldung auch in Deutschland in die Höhe getrieben. 2010 wird die Staatsschuld knapp unter 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen, 2011 knapp über 80 Prozent. Hinzu kommen staatliche Garantien für Banken. Sollten diese Garantien vollständig in Anspruch genommen werden, was Experten für unwahrscheinlich halten, würde die Schuldenquote um weitere sechs Prozentpunkte steigen.

Allerdings geht von der Staatsverschuldung kein direkter Inflationsdruck aus, betonen die Ökonomen Tober und van Treeck. Grund: Die darüber finanzierten Ausgaben haben die Nachfrage in der Krise stabilisiert, als ein gravierender Nachfragemangel herrschte. Daher wirkten sie nicht preisbeschleunigend. Dass ein Teil der Aufträge aus den Konjunkturpaketen erst in diesem Jahr vergeben wurde, ist angesichts des überschaubaren Umfangs kein Problem, so das IMK.

Den Geldwert unter Druck bringen können bestehende Staatsschulden nur indirekt, wenn sie das Vertrauen der Finanzmärkte in Schuldverschreibungen der betreffenden Länder und in die Währung erschüttern, analysiert das IMK. Das ist in Deutschland und im Euroraum derzeit aus mehreren Gründen unwahrscheinlich:

• Der Staatsschuld steht meist ein erhebliches staatliches Vermögen gegenüber, rechnen die Forscher vor. Berücksichtigt man allein das Geldvermögen des Staates, sinkt die deutsche Schuldenquote auf 50 Prozent des BIP. Würde man darüber hinaus die Vermögensgüter des Staates mit einkalkulieren, glichen sich Vermögen und Verbindlichkeiten aus. Zudem verfüge Deutschland über ein „funktionsfähiges Steuersystem mit erheblichem Spielraum zur Erweiterung der Steuerbasis und Erhöhung der Steuersätze“, schreiben die Wissenschaftler. So ist die Steuerbelastung von Vermögen im internationalen Vergleich unterdurchschnittlich.

• Die akute Schuldenkrise einzelner Euro-Länder ist durch den Rettungsschirm von EU und IWF unter Kontrolle, auch wenn es immer wieder temporäre Irritationen an den Märkten gibt.

• In der öffentlichen Debatte wird bisweilen gemutmaßt, Regierungen oder Zentralbanken könnten ein Interesse an einer höheren Geldentwertung haben, um so staatliche Schulden „wegzuinflationieren“. Die IMK-Wissenschaftler halten das ebenfalls für extrem unwahrscheinlich. Regierungen und Zentralbank sei bewusst, dass diese Strategie enorme Risiken aufwerfen würde. Denn erstens hat ein großer Teil der Staatsanleihen nur eine relativ kurze Restlaufzeit. So haben in Deutschland 68 Prozent der ausstehenden Bundeswertpapiere eine Restlaufzeit von maximal sechs Jahren. Die fällig werdenden Schulden müssten also relativ bald neu aufgenommen werden – zu dann erheblich höheren Zinsen. Zweitens könnte die EZB eine längere Phase mit höherer Inflation nur mit einer drastischen Zinserhöhung beenden. Das würde wiederum die Konjunktur schwer schädigen und die Staatseinnahmen schmälern. Aber selbst wenn die Regierungen dennoch auf Inflation setzen wollten, wären sie kaum in der Lage, die unabhängige EZB zu einer inflationären Geldpolitik zu bewegen.

– Rezession als größtes Risiko für Staatsfinanzen –

Ein ernsthaftes Risiko für die Staatsfinanzen der Euro-Staaten – und mittelbar auch für das Vertrauen der Finanzmärkte in die europäische Währung – geht nach der IMK-Analyse somit nicht von der expansiven Geld- und Fiskalpolitik zur Krisenbewältigung aus. Wahrscheinlicher ist dagegen, dass einzelne Eurostaaten in die Rezession zurückfallen. „Die Gefahr besteht zumindest für einige südeuropäische Volkswirtschaften, und sie wächst, wenn alle Euro-Länder wie geplant gleichzeitig sparen und damit das ohnehin fragile Wachstum bremsen“, sagt Studienautor Till van Treeck.

Sollten finanziell angeschlagene Euro-Staaten rezessionsbedingt in akute Zahlungsschwierigkeiten geraten, geriete die Eurozone erneut in eine schwere Krise und die übrigen Länder müssten einspringen. „Auch Deutschland wäre dann kaum in der Lage, über die eigenen Verbindlichkeiten hinaus die Schulden einer Vielzahl anderer Länder zu übernehmen“, warnen die Forscher. Der gesamte Euroraum könne über Jahre hinweg in eine Stagnation oder gar Deflation abrutschen, die auch die Schuldenproblematik verschärfen würde.

So sei es gerade auch im deutschen Interesse, wenn die Bundesrepublik und andere EU-Staaten mit deutlichen Leistungsbilanzüberschüssen und vergleichsweise stabilen Staatsfinanzen zunächst nicht auf einen Konsolidierungskurs einschwenken. Stattdessen sollten diese Länder, vor allem durch stärkere öffentliche Investitionen, die Rolle des Konjunkturmotors im Euroraum übernehmen. „Natürlich müssen wir unsere Budgets konsolidieren, aber dazu sollten wir die beste Strategie wählen“, sagt IMK-Direktor Horn. „Mit dem Rückenwind eines stabilen Aufschwungs bringen wir es viel weiter.“

*Silke Tober, Till van Treeck: Inflation – Die überschätzte Gefahr im Euroraum.
IMK Report Nr. 57, November 2010 zum Download: http://www.boeckler.de/pdf/p_imk_report_57_2010.pdf

Ansprechpartner in der Hans-Böckler-Stiftung

Prof. Dr. Gustav A. Horn
Wissenschaftlicher Direktor IMK
Tel.: 0211-7778-331
E-Mail: Gustav-Horn@boeckler.de
Dr. Silke Tober
Expertin für Geldpolitik IMK
Tel.: 0211-7778-336
E-Mail: Silke-Tober@boeckler.de
Dr. Till van Treeck
Experte für Wirtschaftspolitik IMK
Tel.: 0211-7778-337
E-Mail: Till-van-Treeck@boeckler.de
Rainer Jung
Leiter Pressestelle
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