Hirnforschung: Erinnerungen kommen schneller als gedacht

Diese sollten zuvor gezeigte Wörter identifizieren. Deutlich weniger als eine halbe Sekunde nach dem erneuten Erscheinen eines Begriffs setzte bei den Versuchsteilnehmern der Erinnerungsprozess ein. Bisherige Untersuchungen hatten auf eine längere Reaktionszeit hingedeutet. Die Studie ist in der renommierten Fachzeitschrift „Current Biology“ erschienen.

Den Forschern gelangen noch andere Einblicke in die Arbeitsweise des Gedächtnisses. Sie konnten nachweisen, dass der „Hippocampus“ – eine zentrale Schaltstelle des Gehirns – konkrete Erinnerungen wachruft, an der Entstehung eher diffuser Bekanntheitsempfindungen jedoch nicht beteiligt ist. Dieser Befund gibt Hinweise darauf, wie das Erinnerungsvermögen durch die Alzheimerkrankheit beeinträchtigt wird.
Unser Gehirn bedient sich eines breiten Repertoires an Gedächtnisinhalten. Ob wir eine Melodie wiedererkennen, uns an den Geburtstag des Lebenspartners erinnern oder beim Fahrradfahren unbewusst antrainierte Bewegungsabläufe abrufen – die Vorgänge in unserem Kopf unterscheiden sich von Fall zu Fall. Welche Bereiche des Gehirns jeweils beteiligt sind, ist eine zentrale Frage der Gedächtnisforschung. Ein wichtiger Akteur ist bekanntermaßen der „Hippocampus“. „Dieses Gehirnareal ist eine Schaltstelle für die Verarbeitung von Gedächtnisinhalten und für das Langzeitgedächtnis enorm wichtig“, erläutert Professor Düzel, der am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) in Magdeburg und an der dortigen Otto-von-Guericke-Universität forscht. „Menschen, deren Hippocampus verletzt ist, können sich an Vergangenes nicht oder nur schwer erinnern und sich Neues nur für kurze Zeit merken.“

Bisherige Untersuchungen lieferten allerdings widersprüchliche Ergebnisse über die Rolle dieses Hirnbereichs. „In der Gedächtnisforschung war es eine schwelende Diskussion, ob der Hippocampus einzig für Erinnerungen zuständig ist oder auch dafür, ein Gefühl von Bekanntheit zu erzeugen“, sagt der Neurowissenschaftler. Er erläutert die Hintergründe an einem Beispiel: „Wenn man einen Menschen wiedererkennt, kommt es bisweilen vor, dass man ihn nicht zuordnen kann. Die Person kommt einem bekannt vor, man weiß aber nicht, woher man sie kennt oder wo man ihr begegnet ist.“ In diesem Fall fehle der sogenannte Kontext, unterstreicht Düzel und ergänzt: „Weiß ich hingegen, dass ich diese Person neulich auf einer Party getroffen habe, so ist dieser Kontext vorhanden. Diese Erinnerung ist viel konkreter als ein diffuses Bekanntheitsempfinden.“

Gedächtnistest mit Bildern und Begriffen

Düzel und seine Kollegen wollten Licht in die Kontroverse bringen: Vermittelt der Hippocampus nur Erinnerungen, die mit Kontext verknüpft sind, oder auch ein Gefühl von Bekanntheit? Um diese Frage zu klären, bestellten sie 31 Probanden zum Gedächtnistest. Deren Aufgabe bestand darin, Wörter wiederzuerkennen und diese mit zuvor gezeigten Bildern zu verknüpfen. 14 Studienteilnehmer waren gesund. Bei den übrigen Personen war der Hippocampus aufgrund einer Vorerkrankung geschädigt, das Volumen dieser Hirnregion kleiner als bei gesunden Probanden. Folglich unterschieden sich die Versuchsteilnehmer in ihrer Gedächtnisleistung, sie hatten jedoch alle einen ähnlichen Intelligenz-Quotienten und Bildungsstand.

Die Untersuchungen fanden am Londoner University College statt. Düzels Team kooperierte dabei mit der Hirnforscherin Faraneh Vargha-Khadem vom Institute of Child Health. Der Versuchsablauf war wie folgt: Auf einem Bildschirm wurden den Testpersonen nach und nach Fotografien gezeigt und darauf jeweils ein Wort eingeblendet, das zum Hintergrund keinen inhaltlichen Bezug hatte. Zu einem späteren Zeitpunkt wurden den Probanden neue und alte Begriffe jeweils ohne Hintergrundbild präsentiert. Schon gesehene Wörter galt es nun wiederzuerkennen und im nächsten Schritt – aus einer Sammlung von Abbildungen – das ursprüngliche Hintergrundbild auszuwählen. Gleichzeitig wurde die Hirnaktivität der Versuchsteilnehmer per Magneto-Enzephalographie (MEG) erfasst.

Das Fazit: Beim Wiedererkennen von Wörtern – mit diesem Teil des Versuchs wurde das Bekanntheitsempfinden getestet – zeigte sich kein Unterschied zwischen gesunden Probanden und Patienten. Unterschiede gab es jedoch bei der Zuordnung des korrekten Hintergrundbilds. Ging es also darum, die Begriffe in einen bildlichen Kontext einzubetten, dann korrelierte die Trefferquote mit dem Volumen des Hippocampus: je größer dieses Hirnareal, umso besser schnitten die Versuchsteilnehmer ab.

„Daraus können wir schließen, dass der Hippocampus eine entscheidende Rolle für das Abrufen kontextbehafteter Erinnerungen spielt. An der Erzeugung von Bekanntheitsempfindungen ist er jedoch nicht beteiligt. Das können wir nun eindeutig belegen“, kommentiert Düzel die Ergebnisse. „Im Prinzip kann man also auch ohne Hippocampus Dinge wiedererkennen. Man kann sie allerdings nicht in einen Zusammenhang bringen. Die Fähigkeit, sich konkret zu erinnern, bleibt aus. Das sind Symptome, wie man sie von Alzheimer kennt. Diese Erkrankung schädigt den Hippocampus. Wir verstehen nun besser, welche Gedächtnisfunktionen dabei leiden.“

Erinnerung startet früher als angenommen

Aufschlussreich war überdies die MEG. Mit ihrer Hilfe konnten die Forscher die Reaktion in den Köpfen der Probanden nachvollziehen. „Wenn unser Gehirn Gedächtnisinhalte in einen Kontext stellt, sprechen wir von Muster-Vervollständigung. Wir verstehen nun besser den zeitlichen Ablauf dieses Vorgangs“, erläutert Düzel. „In unseren Messdaten sehen wir ein Signal, das gewissermaßen der Vorbote einer Erinnerung ist. Es hat ein ähnliches Muster wie die Hirnsignale, die mit einem Bekanntheitsempfinden einhergehen. Erinnerungsprozesse werden also durch Bekanntheit eingeleitet und starten daher früher als bisher angenommen.“

Die Wissenschaftler konnten diese schnelle Reaktion genau vermessen. Dazu registrierten sie die Zeitspanne zwischen dem Erscheinen eines Wortes, das die Probanden wiedererkennen sollten, und deren Reaktion im Gehirn. „Wir konnten nachweisen, dass die Erinnerungsprozesse bereits nach etwa 350 Millisekunden beginnen. Das ist weitaus früher als wir bislang vermuteten. Aufgrund bisheriger Untersuchungen waren wir von einer Verzögerung von rund einer halben Sekunde ausgegangen. Wir haben nun ein besseres Verständnis für das Timing von Gedächtnisprozessen“, so Düzel.

Originalveröffentlichung:
„A Rapid, Item-Initiated, Hippocampus-Dependent Neural Signature of Context Memory in Humans”, Aidan J. Horner, David G. Gadian, Lluis Fuentemilla, Sebastien Jentschke, Faraneh Vargha-Khadem and Emrah Düzel, Current Biology, online unter: http://www.cell.com/current-biology/retrieve/pii/S0960982212013103

Das Deutsche Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) erforscht die Ursachen von Erkrankungen des Nervensystems und entwickelt Strategien zur Prävention, Therapie und Pflege. Es ist eine Einrichtung in der Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren mit Standorten in Berlin, Bonn, Dresden, Göttingen, Magdeburg, München, Rostock/Greifswald, Tübingen und Witten. Das DZNE kooperiert eng mit Universitäten, deren Kliniken und außeruniversitären Einrichtungen. Kooperationspartner in Magdeburg sind die Otto-von-Guericke-Universität, das Universitätsklinikum und das Leibniz-Institut für Neurobiologie.

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Dr. Marcus Neitzert idw

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