Diabetologen und Sportwissenschaftler tagen: Bewegung ist die beste Medizin!

„Für viele Patienten ist die `Lifestyle-Intervention´ die Therapie erster Wahl, denn körperliche Aktivität und gesunde Ernährung können diese Form der Zuckerkrankheit nicht nur verhindern, sondern auch effektiv therapieren“, meint der Ulmer Diabetologe und ADBW-Sprecher Professor Reinhard Holl.

„Das Sofa ist ein gefährlicher Ort“, warnte Sportmediziner Professor Jürgen Steinacker beim Schwerpunktreferat des Ulmer Diabetologen-Fachkongress. Dort passiert in der Regel zwar nichts Gefährliches, doch stundenlanges Sitzen vor dem Fernseher – oder auch am Schreibtisch – stellt für große Teile der Bevölkerung ein beträchtliches Gesundheitsrisiko dar. Denn die Deutschen werden nicht nur immer dicker, sondern auch immer fauler was sportliche Aktivität und Bewegung angeht. „Nur 12 Prozent der Deutschen sind sportlich aktiv. Im europäischen Vergleich hinken wir den Skandinaviern, Dänen, Niederländern und Österreichern weit hinterher. Schlechter sind nur noch die Mittelmeerländer, die so gut wie gar keinen Sport treiben. Europäische Spitzenreiter sind wir dagegen in Adipositas und Diabetes, wo wir regelmäßig Platz 2 oder 3 belegen“, beklagt der Leiter der Sektion Sport- und Rehabilitationsmedizin am Ulmer Uniklinikum.

Und das, obwohl der Mensch genetisch auf körperliche Aktivität programmiert sei. „In der Steinzeit legte man oft bis zu 50 Kilometer am Tag zurück, heute sind es gerade mal zwischen 300 und 700 Meter“, informiert Steinacker. Und was früher überlebenswichtig war, nämlich die Fähigkeit Nahrungsenergie im Fettgewebe zu speichern, birgt für viele Menschen heute ein großes gesundheitliches Risiko.

Überernährung und Bewegungsmangel sind – bei entsprechender genetischer Veranlagung – Hauptursachen für Volkskrankheiten wie Adipositas und Diabetes Typ II. Warum ist Übergewicht so gefährlich? Und wieso ist Sport gut bei Diabetes? „Fettgewebe ist ein endokrines Organ und setzt hormon-ähnliche Substanzen frei, so genannte Adipokine“, erklärt der Sportmediziner. Diese senden bei starkem Übergewicht verstärkt inflammatorische Signale aus, die sich als chronische Entzündungen im Gehirn, in den Gefäßen oder den Fettzellen bemerkbar machen. Parkinson und Atherosklerose beispielsweise würden damit genauso begünstigt wie kardiovaskuläre Krankheiten, darunter Herzinfarkt und Schlaganfall.

„Außerdem fördern gewisse Adipokine die Insulinresistenz und damit die Entstehung von Diabetes Typ II. Die Zellen nehmen die Glukose aus dem Blut nicht mehr auf, sodass der Blutzuckerspiegel steigt“, erläutert Steinacker. Wenn die Kilos hingegen purzeln, sinken meist Blutzucker-, Blutdruck- und Blutfettwerte ganz automatisch.

Sport und körperliche Aktivität könnten diese schädlichen Adipokin-Reaktionen ebenfalls parieren. Denn auch der arbeitende Muskel ist ein wichtiges sekretorisches Organ, das stoffwechselaktive Prozesse in Gang bringt, wie die Glukoseaufnahme aus dem Blut oder die Fettverbrennung. Verschiedene Myokine, das sind hormonähnliche Substanzen, die bei Muskelaktivität freigesetzt werden, verbessern zudem Insulinproduktion und -resistenz, fördern die Durchblutung und das Knochenwachstum. Sogar entzündungshemmende Effekte und immunstärkende Wirkungen sollen durch aktive Muskelzellen über diverse Myokine ausgelöst werden.

„Zur Verbesserung der Blutzuckerwerte sollten bei Diabetes TypII nicht immer nur neue Medikamente eingesetzt werden, sondern der Patient muss motiviert werden, sich mehr zu bewegen“, regt Steinacker an und verweist an dieser Stelle auf die Plattform „Exercise is medicine“, die die Bedeutung körperlicher Bewegung für die gesamte Medizin herausstellt. Es gilt als wissenschaftlich belegt, dass eine Ernährungsumstellung in Verbindung mit sportlicher Aktivität bei Diabetes-Patienten so effektiv sein kann, dass Insulingaben kaum oder gar nicht mehr nötig sind. Steinacker: „Eine Einheit Sport macht sich bis zu 72 Stunden danach noch auf den Insulinstoffwechsel bemerkbar.“ Und je mehr Muskeln dabei beansprucht würden, umso besser. Ratsam sei daher eine Kombination aus aerobem Ausdauersport und Krafttraining.

„Körperliche Aktivität ist das beste Medikament“, stimmt auch Dr. Petra Lücke von der AOK Mittlerer Oberrhein zu und ruft die anwesenden Ärzte auf: „Verordnen Sie mehr Bewegung!“. Die AOK habe dafür eigens einen speziellen Rezeptblock entwickelt. Die Sportwissenschaftlerin weist in diesem Zusammenhang auf das breite Bewegungsangebot für Diabetiker der Krankenkassen hin und hat zu guter Letzt noch einen ganz praktischen Tipp: „Wenn man den inneren Schweinehund an die Hand nimmt, ist man dabei nicht allein!“

Ernährungstipps der wissenschaftlichen Art lieferte Dr. Robert Wagner von der Universität Tübingen in seinem Vortrag über den Zusammenhang zwischen Ernährung und Diabetes. Die Quintessenz aus den zahlreichen vorgestellten epidemiologischen Untersuchungen und Interventionsstudien: protektive Wirkung haben Nüsse, Ballaststoffe, mehrfach ungesättigte Fettsäuren, aber – ziemlich überraschend – auch Kaffee und Rotwein! Das Diabetes-Risiko steigert hingegen der Konsum von Nahrungsmitteln mit hoher glykämischer Last und von rotem Fleisch. Gemieden werden sollen vor allem industriell gefertigte Lebensmittel mit hohem Transfettsäuren-Anteil. Schlecht seien auch zu fette Nahrungsmittel wie Pommes oder Chips und süße Softdrinks, da sie Übergewicht fördern und schon dadurch Diabetes begünstigen. Früchte wie Blaubeeren, Trauben und Äpfel dagegen könnten helfen, Diabetes zu verhindern.

Doch – wie die Tübinger Interventionsstudie zeige – sprächen nicht alle Diabetiker auf eine Veränderung des Lebensstils mit gesünderer Ernährung und mehr Bewegung an. „Hierfür gibt es wohl vielfältige Ursachen, die bisher allerdings noch im Dunkeln liegen. Es wird also auch in den nächsten Jahren noch viel Forschungsbedarf und Tagungsstoff geben“, so PD Dr. Sigrun Merger. Die Diabetes- und Adipositas-Expertin ist Oberärztin am Ulmer Uniklinikum und hat gemeinsam mit Professor Reinhard Holl (ZIBMT, Institut für Epidemiologie und medizinische Biometrie) die diesjährige Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Diabetologie Baden-Württemberg in der Münsterstadt organisiert.

Die Tagungsveranstalter hoffen, dass sie mit der Schwerpunktsetzung auf die „Lifestyle-Intervention“ nicht nur ein Bewusstsein für das Problem Diabetes geschaffen haben, sondern auch für dessen Lösung: eine gesündere Lebensführung mit besserer Ernährung und mehr Bewegung. „Gut, wenn man sich dabei den inneren Schweinehund zum Freund machen kann“, so Holl und zeigt auf das kleine Stofftier WABI, den kleinen Schweinehund, das Maskottchen der Tagung.

Weitere Informationen: Prof. Dr. Reinhard Holl, Email: reinhard.holl@uni-ulm.de; Tel.: 0731 / 50 25314;

Verantwortlich: Andrea Weber-Tuckermann

Bei der Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Diabetologie Baden-Württemberg e.V. (ADBW) am 22. und 23. November an der Universität Ulm trafen sich Diabetologen, Praxisärzte und Pflegeexperten mit Sportwissenschaftlern, Ernährungsberatern, Patienten- und Krankenkassenvertretern zum wissenschaftlichen Erfahrungsaustausch. Im Mittelpunkt dabei: Diabetes vom Typ II. Neben dem Schwerpunkt „Lifestyle-Intervention“ ging es um Probleme der Diagnostik beim „Doppel-Diabetes“, um Methoden der Blutzuckermessung, aber auch um spezielle Aspekte von Hyperinsulinismus und Hypoglykämie. Auf dem Programm standen zudem Vorträge zu Diabetes in der Menopause oder bei Mukoviszidose, aber auch zu Sonderformen wie der Steroid- und Transplantationsbedingten Zuckerkrankheit. Die Behandlung diabetischer Folgeerkrankungen, speziell an Auge und Fuß spielte dabei ebenso eine Rolle wie neue therapeutische Ansätze zur Behandlung der Zuckerkrankheit selbst. Vorgestellt wurden in diesem Zusammenhang neben der Insulinpumpentherapie ein neues endoskopisches Verfahren (Endobarrier) sowie viel verprechende Erkenntnisse über den Einsatz so genannter SGLT2-Hemmer. Parallel zur Tagung wurde auch der Ulmer Diabetikertag ausgerichtet, der als Patiententag vom Landesverband Baden-Württemberg des Deutschen Diabetiker Bundes in Zusammenarbeit mit der ADBW veranstaltet wurde.

Media Contact

Willi Baur idw

Weitere Informationen:

http://www.adbw.de

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