Axone – neue Wirkstoff-Targets für erbliche Tumorerkrankungen

Nervenzellen (Neuronen) sind hoch spezialisierte, sehr sensible Zellen, die für die Weiterleitung von Informationen entlang der Kommunikationswege des Nervensystems zuständig sind (A). Sie bestehen aus einem Zellkörper mit verschiedenen Fortsätzen: mehreren kurzen Dendriten, die elektrische Signale von Nachbarzellen aufnehmen und einem, meist langen, Axon, das die Impulse an andere Zellen weiterleitet. Die elektronenmikroskopische Aufnahme (B) zeigt den Querschnitt eines normalen Axons. Durch den Verlust des Proteins Merlin, dessen Mutation zu NF2 führt, kollabiert der Nervenfortsatz und ist nicht mehr funktionstüchtig (C).<br>(Grafik: K. Wagner/FLI; Foto: www.panthermedia.de)<br>

Bei Neurofibromatose, einer Gruppe unheilbarer Erbkrankheiten, werden periphere Nervenzellen geschädigt und entstehen Tumore. Jenaer Forscher vom Leibniz-Institut für Altersforschung haben für eine spezielle Form, Neurofibromatose Typ 2 (NF2), einen Mechanismus entdeckt, der jene Schäden erklärt.

Defekte Nervenzellfortsätze (Axone) sind dafür verantwortlich. Damit wurde ein neues Target gefunden, das nicht nur bei NF2, sondern auch bei anderen Krankheiten des peripheren Nervensystems eine Rolle spielen könnte. Nat Neurosci. 2013, doi:10.1038/nn.3348

Neurofibromatose, den wenigsten ist diese Erkrankung ein Begriff, obwohl allein in Deutschland schätzungsweise 40.000 Menschen davon betroffen sind. Neurofibromatose bezeichnet eine Gruppe von Erbkrankheiten, die zu einem unkontrollierten Wachstum von Nerven- und Bindegewebe führen. Alle Erkrankungsformen werden autosomal dominant vererbt, d.h. etwa die Hälfte der Nachkommen wird die genetische Fehlinformation weitergegeben. Aber auch ohne familiäre Vorbelastung kann die Krankheit durch spontane Veränderungen des Erbmaterials (Neumutation) entstehen.

Vor allem zwei Krankheitsbilder besitzen klinische Bedeutung: der am häufigsten vorkommende Neurofibromatose Typ 1 (NF1, Morbus Recklinghausen), der vor allem zu Veränderungen der Haut (Pigmentflecken und gutartige Knötchen) führt. Zum anderen der seltener auftretende Neurofibromatose Typ 2 (NF2), der zu gutartigen Tumoren führt, die meist vom Hirngewebe und von den Hirnnerven ausgehen. Obwohl die Tumore nur langsam wachsen, werden im Krankheitsverlauf die Hör- und Gleichgewichtsnerven irreparabel geschädigt. Bis heute sind alle Formen der Neurofibromatose kausal nicht heilbar.

Über ein bahnbrechendes Forschungsergebnis, das zur Entwicklung von Medikamenten führen könnte, wird in der aktuellen Ausgabe der renommierten Fachzeitschrift Nature Neuroscience berichtet. Jenaer Forscher des Leibniz-Instituts für Altersforschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI), Dr. Helen Morrison und Dr. med. Alexander Schulz, haben in Kooperation mit dem Universitätsklinikum Jena und Kollegen in Deutschland, Frankreich, England und den USA einen bis dato unbekannten Mechanismus entdeckt, der die Zerstörung der peripheren Nerven erklärt und auch bei NF2-Patienten nachweisbar ist.

„Patienten, die an NF2 erkranken, leiden durch die Ausbildung von Tumoren auch an neurologischen Ausfälle, wie zum Beispiel Taubheitsgefühl und Schwäche in den Extremitäten, die auf Schädigungen des peripheren Nervensystems zurückzuführen sind“, berichtet Dr. Morrison, Nachwuchsgruppenleiterin am FLI. Das periphere Nervensystem ist der Teil unseres Nervensystems, der außerhalb des Gehirns und Rückenmarks (zentrales Nervensystem) liegt. Die Kommunikationsbahnen, über die Signale ausgetauscht werden, sind die Nervenzellen (Neuronen). Sie bestehen aus einem Zellkörper mit verschiedenen Fortsätzen: mehreren kurzen Dendriten, die wie Empfangsantennen elektrische Signale von Nachbarzellen aufnehmen und einem meist langen Axon, das wie ein Sendemast die Impulse an andere Zellen weiterleitet.

„Bisher nahm man an, das geschädigte Schwann-Zellen, die die Axone als ein Teil der schützenden Myelinschicht umwickeln, für das Auftreten der neurologischen Schäden verantwortlich sind“, so Morrison weiter. „Diese Zellen haben nicht nur eine stabilisierende und stützende Funktion für die Nervenzelle, sondern bewirken gleichzeitig auch eine elektrische Isolation für schnelle Reizweiterleitung. Darüber hinaus, sind sie die Leitstrukturen für das Auswachsen von Neuronen, also so eine Art Wegweiser zum richtigen Aufbau eines komplexen Nervensystems“.

„Wir konnten mit unseren Studien jedoch belegen, dass für die Nervenschäden nicht unkontrolliertes Wachstum der Schwann-Zellen, sondern geschädigte Axone verantwortlich sind“, erzählt Dr. med. Alexander Schulz, der gerade erst seine Ausbildung zum Mediziner abgeschlossen hat. „Die in ihrer Funktionsfähigkeit gestörten Axone konnten wir nicht nur in unseren Tierstudien nachweisen, sondern auch im Nervengewebe von NF2-Patienten“, berichtet Schulz weiter.

„Das könnte auch das Rätsel erklären, warum einige NF2-Patienten unter peripherer Neuropathie leiden, die zu Taubheitsgefühl und Schwäche in den Extremitäten führt, obwohl in diesen Gebieten keine Nerventumore nachweisbar sind“, unterstreicht Schulz seine Ergebnisse. „Damit erweitert sich die Sicht auf Axone als mögliche Targets für die Wirkstoffsuche und Behandlung von Neurofibromatose und anderen Erkrankungen dieser Art.“

„Ich finde es besonders bemerkenswert, das ein junger Wissenschaftler, der gerade erst seine Ausbildung beendet hat und im September 2012 mit dem Young Investigator Award der Children’s Tumor Foundation ausgezeichnet wurde, bereits jetzt solche zukunftsweisenden Ergebnisse für Neurofibromatose Typ 2, aber auch für andere Krankheiten des peripheren Nervensystems, wie zum Beispiel diabetische Neuropathie, gefunden hat“, berichtet Morrison stolz.

Die Children’s Tumor Foundation – eine gemeinnützige Stiftung zum Wohl von Neurofibromatose-Erkrankten und ihren Familien – unterstützt das aktuelle Forschungsprojekt am FLI zum Thema “Axonal merlin regulates Schwann cell behavior via neuregulin signalling“ für die nächsten 2 Jahre mit $64,000.

Kontakt:

Dr. Kerstin Wagner
Leibniz-Institut für Altersforschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI)
Beutenbergstr. 11, 07745 Jena
Tel.: 03641-656378, Fax: 03641-656351, E-Mail: presse@fli-leibniz.de
Originalpublikation:
Schulz A, Baader SL, Niwa-Kawakita M, Jung MJ, Bauer R, Garcia C, Zoch A, Schacke S, Hagel C, Mautner VF, Hanemann CO, Dun XP, Parkinson DB, Weis J, Schröder JM, Gutmann DH, Marco Giovannini M, Morrison H. Merlin isoform 2 in neurofibromatosis type 2–associated polyneuropathy. Nature Neuroscience, 2013, doi:10.1038/nn.3348.

Hintergrundinfo

Das Neuron (Nervenzelle) ist eine funktionelle Einheit des Nervensystems; hoch spezialisiert und sehr sensibel. Milliarden von ihnen steuern alle wichtigen Körperfunktionen. Neurone können sehr unterschiedliche Formen und Größen haben, besitzen jedoch einen gemeinsamen Grundbauplan: einen Zellkörper (Soma) und mehrere Fortsätze, die dem Zellkörper entspringen, die Dendriten und das Axon. An jedem Dendriten und jedem Axon findet sich am Ende ein kleines Köpfchen, die Synapse. Über diese wird die Verbindung zu anderen Nervenzellen oder Körperzellen hergestellt.

Dendriten sind kurze, astähnliche Fortsätze der Nervenzelle, die Signale von anderen Zellen empfangen und zum Zellkörper weiterleiten. Das Axon ist ein langer Fortsatz, der beim Menschen bis zu 1 m lang wird und Informationen aktiv über große Entfernungen an andere Nervenzellen weiterleitet. Das Axon wird von den sogenannten Myelinscheiden umhüllt, die die Weiterleitung des elektrischen Potentials leichter und schneller machen. Im Peripheren Nervensystem (PNS) besteht die Myelinscheide aus Schwannschen Zellen, die das Axon umwickeln. Die vorhandenen Zwischenräume werden als Ranviersche Schnürringe bezeichnet. Erst durch diese Myelinschicht (Isolierschicht) werden die hohen Leitungsgeschwindigkeiten der Nerven möglich.

Unter Neurofibromatose wird eine Gruppe von Erbkrankheiten zusammengefasst, die zu unkontrolliertem Wachstum von Nerven- und Bindegewebe führen, so dass zahlreiche überwiegend gutartige Tumoren der Haut und des ganzen Körpers entstehen. Nach Expertenschätzungen sind in Deutschland bis zu 40.000 Menschen davon betroffen. Die zwei bedeutsamsten Arten der Neurofibromatose sind die Neurofibromatose Typ 1 (NF1) und Neurofibromatose Typ 2 (NF2). Alle Erkrankungsformen werden autosomal dominant vererbt, d.h. 50% der Nachkommen erben die genetische Fehlinformation. In etwa der Hälfte der Fälle von Neurofibromatose ist die Mutation aber nicht von einem Elternteil geerbt worden, sondern neu entstanden (Neumutation).

Die Neurofibromatose Typ 1 (Morbus Recklinghausen) ist die häufigste Form von Neurofibromatose. Die Erkrankungswahrscheinlichkeit liegt bei etwa 1:3.000. Hauptsymptome sind Cafe au lait Flecken (Pigmentierungsveränderungen) und zahlreiche Neurofibrome (gutartige Hauttumore). NF1-Patienten weisen Veränderungen auf dem Chromosom 17 auf.

Die Neurofibromatose Typ 2 kommt sehr viel seltener als NF1 vor (1:40.000) und äußert sich vorwiegend in Hör- und Gleichgewichtsstörungen, die durch Tumorwachstum am Hörnerv ausgelöst werden. Bei NF2 liegen genetische Veränderungen auf dem Chromosom 22 vor.

Die Children's Tumor Foundation ist eine gemeinnützige Medizin-Stiftung, die sich für das Wohl Neurofibromatose-Erkrankter und ihren Familien engagiert (http://www.ctf.org/). Eine ihrer Ziele ist die Förderung und Unterstützung bei der Forschung und Entwicklung von Behandlungen und Heilmitteln für Neurofibromatose Typ 1 und 2, Schwannomen und ähnlichen Störungen.

Das Leibniz-Institut für Altersforschung – Fritz-Lipmann-Institut (FLI) in Jena ist das erste deutsche Forschungsinstitut, das sich seit 2004 der biomedizinischen Altersforschung widmet. Über 330 Mitarbeiter aus 25 Nationen forschen zu molekularen Mechanismen von Alternsprozessen und alternsbedingten Krankheiten. Näheres unter http://www.fli-leibniz.de.

Die Leibniz-Gemeinschaft verbindet 86 selbständige Forschungseinrichtungen, deren Ausrichtung von den Natur-, Ingenieur- und Umweltwissenschaften über die Wirtschafts-, Raum- und Sozialwissenschaften bis zu den Geisteswissenschaften reicht. Leibniz-Institute bearbeiten gesellschaftlich, ökonomisch und ökologisch relevante Fragestellungen. Sie betreiben erkenntnis- und anwendungsorientierte Grundlagenforschung, unterhalten wissenschaftliche Infrastrukturen und bieten forschungsbasierte Dienstleistungen an. Die Leibniz-Gemeinschaft setzt Schwerpunkte im Wissenstransfer in Richtung Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Öffentlichkeit. Die Institute pflegen intensive Kooperationen mit Hochschulen, der Industrie und anderen Partnern im In- und Ausland und unterliegen einem maßstabsetzenden transparenten und unabhängigen Begutachtungsverfahren. Aufgrund ihrer gesamtstaatlichen Bedeutung fördern Bund und Länder die Institute der Leibniz-Gemeinschaft gemeinsam. Die Leibniz-Institute beschäftigen rund 16.500 Personen, darunter 7.700 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Der Gesamtetat der Institute liegt bei 1,4 Milliarden Euro. Näheres unter http://www.leibniz-gemeinschaft.de.

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Dr. Kerstin Wagner idw

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