Alge des Jahres 2016: Eisalge Melosira arctica – Gewinnerin oder Verliererin des Klimawandels?

Melosira arctica J. Gutt / Alfred-Wegener-Institut

„Denn noch kann keiner voraussehen, ob Melosira Opfer oder Profiteur des schmelzenden Meereises werden wird, und noch weiß keiner, warum sie die produktivste Alge in dieser lebensfeindlichen Welt ist“, sagt der Biologe Dr. Klaus Valentin vom Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI). Er ist Mitglied der Sektion Phykologie der Deutschen Botanischen Gesellschaft (DBG), in der all jene Algenforscher organisiert sind, die Melosira zur Alge des Jahres 2016 gewählt haben.

„Die Eis- und Kieselalge Melosira arctica ist die mit Abstand produktivste Alge im Arktischen Ozean, wie wir aus unseren neuesten genetischen Studien wissen“, erklärt Klaus Valentin. Im Jahr 2013 war sie zum Beispiel für fast die Hälfte (rund 45 Prozent) der arktischen Primärproduktion verantwortlich. Das heißt, diese Art baut viel Biomasse auf, verbraucht dafür Kohlendioxid und produziert Sauerstoff.

Die Schalen der nur 30 Mikrometer kleinen Algen bestehen aus Kieselsäure und sind von einem gallertartigen Schutzmantel aus Polysacchariden umgeben. So bildet der Einzeller Melosira bis zu mehrere Meter lange Ketten und Algenmatten, die Vorhängen gleich von der Unterseite des Meereises herabhängen. Auch in Salzlaken und in Schmelzwassertümpeln haben Polarforscher die Kieselalge gefunden, wo sie teils in großen Mengen wächst.

Diese Algenmatten waren bereits den Polarforschern um Fridtjof Nansen aufgefallen. Auf ihrer mehrjährigen Polarexpedition Ende des 19. Jahrhunderts sammelten Nansen und seine Begleiter Proben, die heute noch im Friedrich-Hustedt-Zentrum für Kieselalgenforschung am Alfred-Wegener-Institut, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung aufbewahrt werden.

Noch ist aber weitgehend unbekannt, wie Melosira arctica die lange Polarnacht und den harschen Frost des arktischen Winters übersteht, um sich dann im Frühjahr so stark zu vermehren, dass sie den Arktischen Ozean dominiert. „Wir wissen auch nicht, wie sie sich entwickelt und durch welche Umweltfaktoren wie Licht, Nährstoffe oder Salzgehalt ihre Lebensweise gesteuert wird. Und das, obwohl Kieselalgen an der Basis der Nahrungskette stehen und Melosira arctica ein Schlüsselorganismus des arktischen Ökosystems ist“, sagt Klaus Valentin. Aus diesem Grund steht die Alge nun im Fokus eines neuen Forschungsprojektes am AWI.

Erstmals systematische Analysen möglich

Das Projekt „Melosira arctica in a changing Arctic Ocean“ startete als eines der ersten Strategievorhaben des AWI. Dazu sammelte das Team um Klaus Valentin verschiedene Algenproben in der Arktis, um daraus im Labor Reinkulturen zu etablieren. Auf Basis derer ist es nun erstmals möglich, Antworten auf die vielen Fragen der Biologen zu erlangen.

So interessiert die Forschenden zum Beispiel, ob und wie die Kieselalge auf den Klimawandel reagieren wird. Die Meereisdecke der Arktis ist seit Beginn der Satellitenmessungen im Jahr 1979 deutlich geschrumpft. Manche Klimamodelle gehen daher davon aus, dass die Arktis in den Sommern der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts eisfrei sein könnte. „Was geschieht dann mit Melosira, die wir vor allem am und im mehrjährigen Eis finden?“ fragt sich Klaus Valentin.

Physiologische Reaktionen der Eisalge

„Wenn sich das Meerwasser erwärmt und die Lichteinstrahlung zunimmt, wachsen die meisten Algen besser. Das aber kann für Melosira ganz anders sein“, gibt der AWI-Biologe zu Bedenken.

Algen gewinnen mithilfe der Photosynthese Energie und produzieren Sauerstoff, der bei Melosira als Gasbläschen in den Zuckergallerten hängen bleiben kann, was der Alge wiederum Auftrieb verleiht. Vielleicht kann sie auf diese Weise auch im Oberflächenwasser weiterleben, wenn die sie bisher tragenden Eisschollen abschmelzen.

Die Forschenden wollen deshalb herausfinden, bei welchen Temperaturen die Alge optimal gedeiht und Photosynthese betreiben kann. Ferner fragen sie sich, wie die Alge mit dem Nährstoffspektrum umgehen wird, das sich mit den Temperaturen verändern wird. Fehlen ihr dann wichtige Nährstoffe wie etwa Nitrat? Welche Lichtverhältnisse verträgt die Alge am besten, da zu viel Lichteinstrahlung bei schwindenden Eisflächen auch wachstumshemmend wirken kann? All dies lässt sich im Labor einfacher simulieren und genauer messen als im Freiland.

Anpassungsfähigkeit über mehrere Generationen

Im Labor plant das Team auch ein Langzeitexperiment. Es will verschiedene Melosira-Stämme etwa 150 Generationen lang unter verschiedenen Bedingungen kultivieren, um herauszufinden, ob es etwa einzelne Stämme oder Unterarten gibt, die langfristig mit Temperaturen bis zu acht Grad zurechtkommen können. Dann hätte dieser Stamm das Potential sich an den Klimawandel anzupassen. Kann die Alge den Veränderungen trotzen, hätte das weitreichende Auswirkungen auf das gesamte arktische Ökosystem.

Genetische Varianten

Und schließlich möchten die Wissenschaftler auch das Genom der verfügbaren Melosira-Proben analysieren. Auf diese Weise können sie herausfinden, ob in der Nordsee andere Melosira-Unterarten vorkommen als im Norden Kanadas.

Dr. Regine Jahn vom Botanischen Garten und Botanischen Museum der Freien Universität Berlin hatte schon vor zehn Jahren gemeinsam mit einer kanadischen Kollegin innerartliche Sippen identifiziert. Dazu hatte Jahn, derzeit zweite Vorsitzende der Sektion Phykologie, die Proben aus der Ehrenberg-Sammlung des Museums für Naturkunde in Berlin in einem Elektronenmikroskop untersucht, die im Jahr 1852 Systematikern dazu gedient hatten, die Art erstmals für die Wissenschaft zu beschreiben.

Der Vergleich der Originalproben aus der Melville Bay Grönlands mit weiteren Kieselalgen-Populationen vor den Küsten Alaskas und Kanadas zeigte deutliche Unterschiede in den Feinstrukturen ihrer Kieselschalen. Gäbe es tatsächlich mehrere genetische Varianten im Polarmeer, wäre die Chance größer, dass eine Unterart darunter ist, die sich an den Klimawandel anpassen kann.

Melosira wirkt bis in der Tiefsee

In den Jahren, in denen im arktischen Sommer viel Meereis schmilzt, sinken die Algenteppiche mehrere tausend Meter tief zum Meeresboden, wo sie von Seegurken und Haarsternen gefressen werden. Bakterien zersetzen im Anschluss die Melosira-Reste, wie Mitwirkende im neuen Forschungsprojekt auf einer Polarstern-Expedition im Sommer 2012 beobachteten. Im Zuge dieser Zersetzung entziehen die abbauenden Organismen ihrer Umgebung den lebenswichtigen Sauerstoff, sodass die Kieselalge Melosira arctica letztendlich auch das Leben in der Tiefsee beeinflusst. Mit auf diese Reise in die Tiefe nehmen sie dabei bis zu 85 Prozent des in der Arktis vorkommenden, gebundenen Kohlenstoffes, den Melosira zuvor in Biomasse umgesetzt hat. Auf diese Weise wird auch der arktische Kohlenstoffkreislauf von Melosira geprägt.

Informationen für Redaktionen

Druckbare Fotos finden Sie in der Onlineversion dieser Pressemitteilung unter http://www.awi.de/nc/ueber-uns/service/presse.html.

Ihre wissenschaftlichen Ansprechpartner zu diesem Thema sind:
• AWI-Biologe Dr. Klaus Valentin (Tel: +49 (0)471-48 31 14 52; E-Mail: klaus.valentin(at)awi.de)
• Dr. Regine Jahn, Kieselalgen-Expertin und 2. Vorsitzende der Sektion Phykologie in der DBG, Botanischer Garten und Botanisches Museum Berlin-Dahlem (Tel.: +49 (0)30-838-50142; E-Mail: r.jahn(at)bgbm.org)

Ihre Ansprechpartnerin in der AWI-Pressestelle ist Sina Löschke (Tel: +49 (0)471 4831 – 2008; E-Mail: medien(at)awi.de).

Informationen über die Sektion Phykologie in der DBG:
Die Mitglieder der Sektion Phykologie (http://www.dbg-phykologie.de) untersuchen Algen wissenschaftlich und bearbeiten ökologische, physiologische, taxonomische und molekularbiologische Fragestellungen an Mikro- und Makroalgen. Die Sektion fördert die Algenforschung und unterstützt den wissenschaftlichen Nachwuchs. Sie ist eine der sechs Fachsektionen der Deutschen Botanischen Gesellschaft e. V. (DBG: http://www.deutsche-botanische-gesellschaft.de).

Informationen über das Alfred-Wegener-Institut:
Das Alfred-Wegener-Institut forscht in den Polarregionen und Ozeanen der mittleren und hohen Breiten. Als eines von 18 Forschungszentren der Helmholtz-Gemeinschaft koordiniert es Deutschlands Polarforschung und stellt Schiffe wie den Forschungseisbrecher Polarstern und Stationen für die internationale Wissenschaft zur Verfügung.

Media Contact

Ralf Röchert idw - Informationsdienst Wissenschaft

Weitere Informationen:

http://www.awi.de

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