Europäische Aktiengesellschaften: Keine Aushöhlung der Mitbestimmung

Die Rechtsform einer Europäischen Aktiengesellschaft haben in Deutschland mehr Unternehmen gewählt als anderswo in Europa. Doch eine Umgehung oder Aushebelung von Mitbestimmungsrechten war allenfalls in Einzelfällen das Motiv dafür. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Auswertung der aktuellen Daten zur SE-Entwicklung.

Denn nur eine Minderheit der operativ tätigen deutschen SEs war vor dem Rechtsformwechsel mitbestimmt oder eine Aktiengesellschaft nach deutschem Recht. Und da, wo zuvor zahlenmäßige Parität oder Drittelbeteiligung der Arbeitnehmer im Aufsichtsrat galt, blieb diese auch in der neuen Rechtsform erhalten, zeigt die Analyse von Dr. Roland Köstler, Unternehmensrechtler in der Hans-Böckler-Stiftung.

Die Europäische Aktiengesellschaft (SE) breitet sich aus – zwar stetig, aber nicht besonders schnell. Seit gut fünf Jahren können sich Unternehmen in Deutschland diese Rechtsform geben, die ihnen den Vorteil bietet, EU-weit als rechtliche Einheit aufzutreten. Bis Ende März 2010 haben das 72 operativ tätige Firmen getan, so Köstler. In den übrigen EU-Ländern hat der Jurist insgesamt 62 operativ tätige SEs gezählt. Operativ tätig, das heißt: Die Unternehmen machen wirklich Geschäfte und beschäftigen mindestens fünf Mitarbeiter, sie sind nicht nur vorgegründete rechtliche Hüllen zum Weiterverkauf. Solche Vorrats- oder „leere“ Gründungen stellen nach wie vor die Mehrheit unter den insgesamt 538 SEs in der EU.

Interessant ist der Blick auf die Rechtsform der deutschen Ausgangsunternehmen: Lediglich 32 der 72 operativ tätigen deutschen Euro-Gesellschaften waren zuvor Aktiengesellschaften, nur 17 der SEs sind börsennotiert. „Von einer ,Flucht aus der AG', wie sie von manchen Beratern und Rechtswissenschaftlern beschworen wird, kann da sicher keine Rede sein“, sagt der Mitbestimmungsexperte Köstler.

Auch die These, dass deutsche Konzerne die europäische Rechtsform wählten, um die Mitbestimmung zu beschränken, lasse sich mit den aktuellen Zahlen nicht belegen, betont Köstler. Eine Untersuchung der Unternehmensberatung Ernst & Young, die vermeintliche Indizien für diese Annahme nennt, differenziere nicht ausreichend zwischen größeren und kleineren Unternehmen, die schon vor der Umwandlung zur SE nicht mitbestimmt waren. Die Unternehmensberatung hatte kürzlich im Auftrag der EU-Kommission die SE-Rechtsumsetzung evaluieren sollen.

Köstlers Auswertung zeigt: Nur zehn deutsche Unternehmen, die mittlerweile als SE firmieren und operativ tätig sind, beschäftigten zum Zeitpunkt des Wechsels in Deutschland mehr als 2.000 Mitarbeiter. Neun davon waren nach dem Mitbestimmungsgesetz von 1976 im Aufsichtsrat mitbestimmt. Zum Vergleich: Ende 2009 gab es insgesamt 682 Unternehmen, die diesem Gesetz unterlagen. In weiteren 13 Unternehmen, die sich in eine SE umwandelten, stellten die Arbeitnehmer ein Drittel der Aufsichtsratsmitglieder.

Die größte Gruppe unter den operativen deutschen SEs bilden hingegen jene 48 Firmen, die auch in ihrer vorherigen Rechtsform keine Beteiligung der Arbeitnehmer hatten. Grund dafür: Entweder beschäftigten sie in Deutschland weniger als 500 Menschen, oder sie fielen unter die Holdingregelung des Drittelbeteiligungsgesetzes von 2004, die sie von der Pflicht zur Arbeitnehmerpartizipation ausnahm. Lediglich bei einigen Unternehmen gibt es Indizien dafür, dass der Wechsel zur SE auch etwas mit der Mitbestimmung zu tun hatte: Die Rechtsform wurde geändert, als sich die Zahl der Beschäftigten einem der Schwellenwerte näherte. Weil bei der SE über die Ausgestaltung der Mitbestimmung verhandelt werden kann, lässt sich in solchen Situationen die Arbeitnehmerbeteiligung auf niedrigerem Niveau „einfrieren“.

Bei den neun großen mitbestimmten SEs hat sich an der paritätischen Sitzverteilung im Aufsichtsrat hingegen nichts geändert. Drei von ihnen haben ihr Kontrollgremium verkleinert, zwei davon deutlich, zeigt Köstlers Analyse.

Fünf Unternehmen blieben beim bereits zuvor bestehenden Aufsichtsrat mit 12 Mitgliedern. Ein weiteres Unternehmen, die MAN Diesel & Turbo SE, hatte den Aufsichtsrat zunächst verkleinert, ihn dann aber wieder auf 18 Mitglieder aufgestockt.

Ein genereller Trend zu kleineren Aufsichtsräten in deutschen Unternehmen lasse sich aus den SE-Zahlen nicht ablesen, betont der Experte. Denn es gibt auch Daten, die in eine andere Richtung weisen: So hat Bernd Frick, Wirtschaftsprofessor an der Uni Paderborn, ermittelt, dass rund ein Viertel der in den deutschen Aktienindizes DAX, MDAX und SDAX notierten Unternehmen zwischen 1998 und 2007 einen größeren Aufsichtsrat hatten, als gesetzlich vorgeschrieben ist. Zu ganz ähnlichen Zahlen kam der Marburger Professor Elmar Gerum, als er zum Stichtag 1. Januar 2004 die Aufsichtsratsgrößen deutscher Aktiengesellschaften untersuchte. „Die Praxis hält ganz offenkundig größere Aufsichtsratsgremien für vorteilhaft beziehungsweise effizient“, schreibt der Wissenschaftler.

Die zunehmende Zahl von Europäischen Aktiengesellschaften belegt nach Köstlers Analyse, dass die SE funktioniert – als grenzüberschreitende Ergänzung zu den nationalen Gesellschaftsformen: „Die SE hat sich etabliert, aber sie ist keine Verdrängungskonkurrenz, beispielsweise gegenüber der AG“, sagt der Experte. Es sei daher nicht nachvollziehbar, wenn einige Rechtswissenschaftler vorschlügen, Elemente der SE auf deutsche Aktiengesellschaften zu übertragen und die Ausgestaltung der Mitbestimmung zur Verhandlungssache zu machen. „Das ergibt keinen Sinn, schon gar nicht nach den Erfahrungen in der Wirtschaftskrise“, sagt Köstler. „Der Bundespräsident und Spitzenmanager nennen die Mitbestimmung einen Standortvorteil, weil sie in schwierigen Situationen breit akzeptierte Entscheidungen erlaubt. Warum sollte man da etwas ändern?“

Ansprechpartner in der Hans-Böckler-Stiftung

Dr. Roland Köstler
Abteilung Mitbestimmungsförderung
Tel.: 0211-7778-180
E-Mail: Roland-Koestler@boeckler.de
Rainer Jung
Leiter Pressestelle
Tel.: 0211-7778-150
E-Mail: Rainer-Jung@boeckler.de

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Rainer Jung idw

Weitere Informationen:

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