Ein Unternehmen in Interessenskonflikten

Die Herstellung von Aluminium ist aufwendig: Zunächst wird Bauxit, ein aluminium-oxydhaltiges, rötliches Gestein, unter sehr hohem Energieaufwand durch thermische Verfahren zu Tonerde, einem weißen Pulver, verarbeitet. Unter Einsatz hoher elektrischer Energie entsteht anschließend in einem separaten Produktionsprozess im Elektrolyseofen aus Tonerde Aluminium. Vier Tonnen Bauxit sind nötig, um eine Tonne Aluminium herzustellen, ein Leichtmetall, das für die Rüstungswirtschaft, insbesondere die Luftfahrt, eminente Bedeutung hatte. Für die Herstellung des begehrten Leichtmetalls war die Schweiz wegen der günstig verfügbaren Wasserenergie ein idealer Produktionsstandort, auch wenn sie weder Bauxit- noch Kohlevorkommen besaß. Zwar agierte die Aluminium Industrie AG (AIAG) mit Firmensitz im schweizerischen Neuhausen schon 1933, im Jahr der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland, auf einer globalen Ebene, Mittelpunkt der Aktivitäten des Konzerns blieb jedoch für die Konzernleitung die Schweiz. Wie das Unternehmen, das zu den fünf größten Aluminiumproduzenten der Welt gehörte, in der politisch und wirtschaftlich unruhigen Zeit von 1933 bis 1945 agiert hat, hat Dr. Cornelia Rauh-Kühne vom Historischen Seminar der Universität Tübingen in ihrer Habilitationsschrift untersucht. Ihre Arbeit trägt den Titel: ?Zwischen ?Freihandel? und ?Autarkiewahn? ? Ein Schweizer Multi-Konzern in Hitlers Europa?. Die AIAG ging nach 1945 in der Alusuisse AG, Zürich, auf, die neuerdings durch eine Fusion Teil der Alcan Inc. geworden ist.

Bei ihren Recherchen war die Historikerin auf das Entgegenkommen der Unternehmensleitung angewiesen. Es kam ihr zu Hilfe, dass ? angestoßen durch politische Diskussion um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg – vom Schweizer Bundesrat 1997 eine international besetzte Expertenkommission ins Leben gerufen wurde, die sich mit der brisanten Thematik beschäftigen sollte. Damit wurde es auch für andere Wissenschaftler zum ersten Mal möglich, die Akten Schweizer Unternehmen aus der Kriegs- und Zwischenkriegszeit einzusehen. ?Die Akten der AIAG-Leitungsorgane erlauben einen sehr kompakten Zugriff auf die Geschichte des Konzerns, denn die Entscheidungsfindung des Unternehmens ist seit Ende des 19. Jahrhunderts gut dokumentiert?, erklärt Rauh-Kühne.

Die Unternehmensleitung, vor allem der Verwaltungsratspräsident Professor Max Huber, war Anhänger einer liberalen Weltwirtschaftsordnung, wie sie vor 1914 existiert hatte. Protektionismus, Autarkiepolitik und andere Formen des Interventionismus, mit denen viele Staaten auf die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre reagierten, widersprachen den wirtschaftlichen Prinzipien, die im AIAG-Verwaltungsrat traditionell hochgehalten wurden. Gegenüber der nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik hegte die Unternehmensleitung tiefes Misstrauen. Ihre deutschen Tochterunternehmen mussten daher nach 1933 ohne Schweizer Investitionsmittel auskommen, verkrafteten dies allerdings problemlos. Denn der Rüstungs-Boom bescherte den deutschen Werken hohe Gewinne, die sie allerdings nicht ins Ausland transferieren konnten. So drängte der NS-Staat mit einer restriktiven Devisen- und Steuerpolitik die Unternehmen zur Reinvestition ihrer beachtlichen Erträge. Folglich bauten die Unternehmen ihre Produktionsanlagen aus und forcierten auf diese Weise die deutsche Rüstung.

Die Entwicklung der Rohaluminiumproduktion der AIAG-Hütte in Rheinfelden macht deutlich, wie dramatisch die Rüstungswirtschaft expandierte. Rheinfelden hatte 1933 noch 4400 Tonnen Metall jährlich produziert, stellte 1939 aber bereits 23 000 Tonnen und 1944 schließlich 37 500 Tonnen her. Die Verarbeitungswerke in Süddeutschland wurden zu wichtigen Zulieferern für den Aufbau von Hitlers Luftwaffe. Unter Einsatz von Kriegsgefangenen und zivilen Zwangsarbeitskräften wurden im Krieg bei den Aluminiumwalzwerken in Singen Bauteile der V2-Rakete, Hitlers angeblicher ?Wunderwaffe?, hergestellt.

Seit 1940 war die Schweiz von allen Seiten durch die Achsenmächte umgeben. Die Vorstellung, das Land und seine Unternehmen hätten sich unter diesen Umständen wirtschaftlich neutral verhalten können, bezeichnet Rauh-Kühne als ?eine Art Selbstbetrug vieler Schweizer?, der sie auch über ihre heutige Lage täusche. Sie glaubten an unternehmerische Entscheidungsfreiräume, wo politische und ökonomische Zwänge das Geschehen diktierten. Das Neutralitätsrecht entstamme einer Zeit, als ein ?totaler Krieg?, der auch die Wirtschaft der kriegführenden Länder völlig beherrschte, noch gar nicht vorstellbar war.

Die Konzernleitung der AIAG habe durchaus erkannt, dass die Ertragskraft des Unternehmens immer stärker von den wirtschaftspolitischen Zielen diktatorischer Regime in den Nachbarländern der Schweiz mitbestimmt wurde. Sie bemühte sich seit Mitte der 1930er Jahre um neue Standorte in Ländern mit liberaler Wirtschaftsverfassung. Dazu zählten vor allem Großbritannien mit dem Commonwealth und die Niederlande. Eine Kooperation mit einer niederländischen Gesellschaft sollte dem Unternehmen die niederländischen Kolonien als Rohstoffreservoir und Absatzgebiet sichern. Doch das 1939 schon weit gediehene Projekt scheiterte. Der Krieg setzte ihm ein plötzliches Ende und hinterließ hohe Fehlinvestitionen. Bis zum Jahr 1940 hatten die Schweizer Werke der AIAG hauptsächlich England und Frankreich mit Rüstungsmaterial beliefert. Seit dem blitzschnellen Sieg der Wehrmacht im Westen war das Unternehmen vom Import von Tonerde und anderen Rohstoffen aus dem deutschen Machtbereich vollkommen abhängig. Die Werke im Wallis mit Tausenden von Beschäftigten konnten nur weiter produzieren, wenn die deutschen Rüstungsbehörden ihnen Rohstoffe zuteilten.

?Es ergab sich eine Interessensymbiose: Die AIAG war daran interessiert, ihre Produktionsanlagen auszulasten?, so Rauh-Kühne. Solange der Sieg der Nazis als wahrscheinlich gegolten habe, bis etwa 1942, sei die Zusammenarbeit mit den deutschen Rüstungsbehörden reibungslos verlaufen: ?Nicht nur von der Unternehmensleitung aus, sondern auch von staatlicher Seite, das Schweizer Außenhandelsministerium kontrollierte den Waren- und Devisenaustausch zwischen Schweizer Unternehmen und NS-Wirtschaft. Weil die Deutschen sich mit Fortdauer des Krieges immer weniger in der Lage zeigten, ihre ausländischen Handelspartner mit Rohstoffen zu versorgen, ebbten die Schweizer Exporte seit 1943 ab und versiegten in der zweiten Jahreshälfte 1944 vollständig. Die Produktion im Schweizer Wallis stand monatelang still. Die Konzernleitung der AIAG habe, solange es noch Handlungsspielräume gab, versucht, die Abhängigkeit ihrer Schweizer Werke von deutschen Rohstofflieferungen zu verringern. Doch Tempo und Reichweite von Hitlers Aggressionspolitik vereitelten wiederholt Projekte, sich aus der Abhängigkeit des deutschen Nachbarn zumindest partiell zu befreien. Die Handlungsspielräume der Unternehmen waren, so zieht Cornelia Rauh-Kühne ihr Fazit, weit geringer, als viele Pressekommentare zur Debatte um die Schweiz im Zweiten Weltkrieg vermuten lassen.

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Michael Seifert idw

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