Deutschland verharrt in der alten Zeit des Fordismus

Die Konjunkturforscher des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung gehen nicht davon aus, dass sich die konjunkturelle Erholung nach 2008 auf den deutschen Arbeitsmarkt positiv auswirken werde. „Langzeitarbeitslose, die sogenannten Strukturopfer, bleiben, wo sie sind.

Und ihre Zahl wird nicht kleiner. Im Grunde weiß jedes Kind, dass Wirtschaftswachstum heute nicht mehr zwangsläufig zu mehr festen Arbeitsplätzen führt“, schreibt Wolf Lotter in einem Beitrag für die Zeitschrift brand eins. Mager entwickelt sich der Trend zur Selbstständigkeit. Was der aktuelle Gründungsreport der KfW Bankengruppe zu vermelden hat, verheißt nichts Gutes: Nur 1,1 Mio. Menschen haben sich im Jahr 2006 für eine selbstständige Existenz entschieden, etwa 200.000 weniger als im Jahr zuvor. Und auch diese Zahl trügt: Der überwiegende Teil dieser Gründer ist nur nebenberuflich selbstständig. Mit weniger als 450.000 Vollgründern liegt die echte deutsche Gründerquote damit bei 0,86 Prozent – der niedrigste Wert seit dem Jahr 2000.

Dabei sind Selbstständige, so Lotter, der Nukleus von Unternehmensgründungen, die wiederum neue Arbeit und neue Mitarbeiter mit sich bringen. Der KfW-Gründungsreport berichtet aber auch von der wahren Trendwende der Arbeit: „Tendenziell neigen Personen mit besseren formalen Qualifikationen und damit höherem Humankapital überdurchschnittlich stark zu Gründungen.“ Wer sich seiner Qualifikation bewusst ist, wer Leistung und Eigenverantwortung übernehmen will, entscheidet sich immer häufiger für die Selbstständigkeit.

Auch und vor allem deshalb, schreiben die KfW-Forscher, weil sich selbstbestimmte Arbeit in den engen Karrierekorridoren der Unternehmen nicht mehr denken lässt. Und auch weil viele gelernt haben, dass sie selbst die Früchte ihrer Arbeit genießen wollen – statt ihre Karriere dem Wohlwollen einer starren Hierarchie zu überlassen. „Solche Lebensläufe zeigen, wie albern die Begriffe der alten Arbeitswelt geworden sind. Es geht nicht darum, angestellt zu sein oder nicht; es geht darum, selbstständig und selbstbestimmt zu arbeiten. Das ist der Preis, den jeder verlangt, der sein Können richtig einschätzen kann“, weiß Lotter.

Der Wirtschaftswissenschaftler Rolf Sternberg verfolge diese neue Klasse und ihre Normalität seit vielen Jahren ganz genau. Seit mehr als einem Jahrzehnt legt der Professor mit seinem Global Entrepreneurship Monitor das Zeugnis für entwickelte Volkswirtschaften vor. „Der alte Fordismus, zu dem der scheinbar sichere Job auf Dauer gehört, ist Vergangenheit. Das kommt nicht wieder, auch nicht in einer abgewandelten Version, wie das manche heute glauben. Niemand kann Deutschland in die sechziger Jahre zurückholen.“ Doch gleichzeitig warnt Sternberg davor, den Spielraum, der sich durch die Veränderung ergibt, nicht zu nutzen. „Es gibt immer mehr Leute, die ihre Freiräume verlangen und nutzen. Und sie setzen das ohne Zweifel auch durch“, sagt er.

Umso problematischer sei es, dass dieser klare Trend zu mehr Selbstständigkeit in der Arbeit „kulturell und normativ beharrlich ignoriert wird“. In den Schulen spiele Selbstständigkeit weder als Erwerbsform noch als Lebensziel eine Rolle. Das führt zu einer grotesken Entwicklung, denn tatsächlich werden immer mehr Leute selbstständig im eigentlichen Sinne, entscheiden also selbst über ihre Arbeit und ihren Erfolg. „In anderen Ländern, nicht nur in den USA, ist das ganz anders. Für Sternberg sind es vor allem die einst durchaus staatsgläubigen Nationen Niederlande und Dänemark, die einen enormen Wandel in Sachen Selbstständigkeit durchgemacht haben. Am Beispiel Dänemark zeigt sich der Zusammenhang zwischen einem gründlich reformierten Staat, der fit ist fürs 21. Jahrhundert, und dem positiv besetzten Leitbild Selbstständigkeit besonders deutlich: Die Jahre der Flaute nutzte Dänemark gezielt für einen Komplettumbau seines sozialen Systems, das nach wie vor als eines der besten der Welt gilt. Das starre Arbeitsrecht, das sehr ähnlich aussah wie das, was Deutschland heute noch gegen seine wirtschaftliche Entwicklung in Anschlag bringt, wurde abgeschafft. Es ist kein gesellschaftliches Stigma, oft den Job zu wechseln: Phasen als Unternehmer und als Angestellter wechseln einander ab“, so Lotter.

Deutschland gehe es nach Ansicht von Michael Müller, Wirtschaftssenator im Bundesverband mittelständische Wirtschaft (BVMW) http://www.bvmwonline.de , ein bisschen so wie einem alternden Liebhaber. „Er schaut auf sein früheres Leben zurück. Damals war er noch rank und schlank, charmant und topfit. Der Erfolg bei den Damen stellte sich automatisch ein. Mittlerweile hat er graue Haare und ein paar Pfunde zugelegt. Nicht jede Dame, die er möchte, beißt sofort an. Er muss sich eben eine neue Strategie ausdenken, wie er weiterhin punkten kann. Vergleicht er sich stets mit dem 20-jährigen Don Juan, der er mal war, dann wird es nichts. Denn nichts lähmt so sehr wie der Erfolg vergangener Zeiten. Deutschland und Meinungsführer wie der NRW-Ministerpräsident Jürgen Rüttgers leiden unter dieser Krankheit, immer nach hinten und nicht genug nach vorn zu schauen“, moniert Mittelständler Müller, Geschäftsführer des IT-Dienstleisters a&o http://www.ao-services.de .

Mit Flächentarifvertrags-Ideologie und Besitzstandsdenken verspiele man die Zukunftsfähigkeit. „Um so erfreulicher sind Initiativen wie der Heidelberger Verein 20prozent http://www.20prozent.org/index.php , die sich offensiv zu Unternehmertum und Selbstständigkeit bekennen. Hier entsteht eine Geisteshaltung, die wir dringender brauchen, als das weinerliche Gejammer über die Risiken der Globalisierung“, betont Müller.

In der Freelance-Ökonomie, die sich in den nächsten Jahren nach Prognosen des Bonner Dienstleistungsforschers Dr. Manfred Wirl in Deutschland immer mehr ausbreiten wird, stößt die industriekapitalistische Denkweise von IG-Metall, BDI, IHKs und Co. ohnehin an Grenzen: „Computer und Internet, aber vor allem Dezentralisierung, Flexibilisierung, Outsourcing und Networking haben schon jetzt die traditionellen Arbeitsverhältnisse auf den Kopf gestellt. Es kommen neue Selbständige auf den Markt, die sich als Serviceanbieter, Wissens- und Telearbeiter profilieren. Das traditionelle Modell des deutschen Wohlfahrtsstaates hat ausgedient, auch wenn es viele noch nicht wahrhaben wollen“.

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