Wie viel Staat braucht der Welthandel?

Wirtschaftshistoriker der Universität Münster untersuchen Rolle eines historischen Freihandelsnetzes

Die Frage, ob und wie der Welthandel liberalisiert werden soll, erregt die Gemüter. Verfechter der Globalisierung verweisen auf die Regulierungskraft des Marktes, Gegner befürchten, dass die armen Länder der Welt immer ärmer werden. Wie sich die weltweite Öffnung der Märkte auswirken wird, ist noch nicht abzusehen. Ein Beispiel aus der Vergangenheit aber könnte erfolgreiche Strategien aufzeigen: das so genannte Cobden-Chevalier-Netzwerk. Die in der wirtschaftswissenschaftlichen Fachliteratur oft als überaus erfolgreich gerühmten Handelsabkommen sind im Detail noch nicht untersucht. Das Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Universität Münster wird jetzt der Frage nachgehen, inwieweit die nationalen Ökonomien Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts von internationalen Freihandelsabkommen profitiert haben. Dafür stellt die Fritz-Thyssen-Stiftung 100.000 Euro für den Zeitraum von zweieinhalb Jahren zur Verfügung.

1860 bereitete der britische Unterhausabgeodnete Richard Cobden gemeinsam mit dem französischen Staatsrat und Nationalökonomen Michel Chevalier das erste Freihandelsabkommen zwischen Frankreich und Großbritannien vor, das seitdem ihren Namen trägt. Das besondere an diesem Vertrag: Die Partner vereinbarten, dass die gegenseitigen Vorteile auch Dritten gewährt werden mussten, falls mit diesen Verträge abgeschlossen wurden. „So entwickelte sich ein dynamisches Netzwerk, das nicht zentral geregelt wurde und aus bilateralen Verträgen ein kompliziertes Geflecht aufbaute“, erläutert Prof. Dr. Ulrich Pfister, Direktor des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte.

Denn das Abkommen zwischen Frankreich und England ließ die europäischen Nachbarn nicht unberührt: Durch die Abschaffung der französischen Zölle wurden dort die englischen Waren billiger, folglich wurden diese bevorzugt und weniger beispielsweise vom preußischen Nachbarn gekauft – ein guter, aber nicht vom Staat vorgeschriebener Grund, gleichfalls der Freihandelszone beizutreten. Immer mehr nord- und mitteleuropäische Staaten schlossen ein wirtschaftliches Bündnis mit einem der bereits zum Netzwerk gehörenden Staaten und damit automatisch mit allen anderen. In der Blütezeit, die bereits 1963 begann, bildeten rund zehn Staaten das Herzstück des Netzwerks, darunter England, Frankreich, Belgien, Italien und der deutsche Zollverein. Gemeinsam kontrollierten sie rund 60 Prozent des damaligen Welthandels.

Politische Konflikte zwischen den Nationen spielten keine Rolle: „Wirtschaft und Politik hatten im 19. Jahrhundert kaum miteinander zu tun“, erläutert PD Dr. Carsten Burhop. „Es gab nur relativ wenig staatliche Interventionen, das größte Vertrauen wurde in die private Initiative gesetzt“. Allerdings nur rund 20 Jahre lang. Offiziell bestand das Netzwerk zwar noch länger, faktisch nahm bereits Ende der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts die Protektion wieder zu, neue Zölle wurden eingeführt. 20 Jahre scheinen nur ein kurzer Zeitraum zu sein, doch ist die Welthandelsorganisation (WTO) erst 1994 gegründet worden. Was aber hilft ein 150 Jahre altes wirtschaftliches Modell bei der Beurteilung der heutigen Lage? „Erst mal haben wir natürlich heute noch nicht allzu viele Daten zur Verfügung, wie erfolgreich der Globalisierungsprozess für alle Beteiligten ist“ sagt Burhop. Außerdem lieferten die modernen Daten beispielsweise zu den GATT-Verträgen zweideutige Ergebnisse, je nachdem, welches Modell zugrunde gelegt werde. Deshalb sei es sinnvoll, einen abgeschlossenen historischen Vorgang zu untersuchen.

Zum anderen sind da sowohl die Gemeinsamkeiten wie auch die Unterschiede, vor dessen Hintergrund sich die zeitgenössischen Prozesse einordnen lassen. „Die ökonomische Theorie besagt, dass der Abbau von Handelshindernissen immer wohlfahrtssteigernd ist“, so Burhop. Dafür gibt es mehrere Gründe: Zum einen wird der Handel an sich billiger, wenn die Zölle gesenkt werden und nimmt dadurch zu. Die Vereinheitlichung von Warenklassifikationen durch Verträge führt zu einem geringeren Aufwand und dadurch zu einer Verringerung der Kosten, so Pfister.

Für das Cobden-Chevalier-Netzwerk lässt sich nachweisen, dass tatsächlich die Volkswirtschaften profitierten. Allerdings ist nicht bekannt, wie die Handelsströme im einzelnen funktionierten. Welche Auswirkungen hatte es beispielsweise auf die Rheinweine des Zollvereins, wenn französische Weine in England deutlich billiger wurden? Deshalb wird Markus Lampe in seiner Doktorarbeit insgesamt 20 Güterkategorien detailliert darstellen. Dabei soll es nicht bei der quantitativen Analyse bleiben, denn der Untersuchungszeitraum fällt mit der Industrialisierung zusammen. So könne es auch möglich sein, dass der Welthandel nur deshalb zugenommen habe, weil Innovationen wie der Telegraph oder der Dampfantrieb die Organisation und den Transport preisgünstiger machten.

Deshalb ist es nur ein erster Schritt, die einzelnen Handelsströme zu untersuchen. Im Mittelpunkt des Interesses steht die Dynamik des Netzwerkes und das Zusammenspiel zwischen den einzelnen Interessengruppen darzustellen. „Denn damit lässt sich auch die Frage klären, ob internationale Regime wie die WTO unter Führung einer Hegemonialmacht wie den USA überhaupt notwendig sind, oder ob spontan entstehende Bündnisse wie das Cobden-Chevalier-Netzwerk nicht wesentlich effizienter sind“, erklärt Prof. Pfister.

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Brigitte Nussbaum idw

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