Komponententransport auf der Ameisenstraße – Kommunikation aus dem Tierreich löst Logistikaufgaben

Siemens-Forscher haben sich das Organisationstalent von Insektenstaaten zum Vorbild genommen, um Logistikprozesse zu optimieren, die die Pünktlichkeit von Warenlieferungen verbessern. Die Entwickler aus dem Bereich Corporate Technology (CT) programmierten dazu effiziente Rechenroutinen, die das Verhalten von Ameisen und Wespen nachahmen. Wie sich im Pilottest zeigte, kann man mit den naturnahen Algorithmen die Anzahl pünktlicher Lieferungen annähernd verdoppeln. Selbst bei komplexen Liefervorgängen, die sich aus ganz unterschiedlichen Waren und Komponenten zusammensetzen, arbeitet die Software zuverlässig.


Eigentlich haben Ameisenhaufen und Warenlager wenig gemein. Für Thomas Runkler aber gehört beides eng zusammen. Er hat gemeinsam mit seinen Mitarbeitern Rechenmodelle entwickelt, die sich das Organisationstalent von Insekten zu Nutze machen, um die Pünktlichkeit von Warenlieferungen zu verbessern. Grundlage der Software ist die Beobachtung, dass ein einzelnes Insekt zwar nur über wenig Intelligenz verfügt. Auf erstaunliche Weise aber ist der Insektenstaat als Ganzes zu äußerst komplexen Handlungen fähig, beispielsweise wenn es darum geht, den kürzesten Weg zu einer Futterquelle zu finden. Runkler hat die grundlegenden Prinzipien aus Ameisen- und Wespenkolonien auf die Logistik übertragen. In einem Pilotprojekt gelang es, die Anzahl pünktlicher Lieferungen fast zu verdoppeln – mit schnellen und klar strukturierten Algorithmen.

Runkler erläutert die Funktionsweise seines Rechenmodells am Beispiel eines Computerversands, der PCs, Monitore, Grafikkarten, Tastaturen und dergleichen mehr an Endkunden verschickt. Treffen alle Komponenten zur rechten Zeit beim Auslieferungslager ein, läuft alles glatt. Päckchen werden pünktlich gepackt und zum vereinbarten Termin auf den Weg gebracht. Häufig aber treten Störungen auf. Grafikkarten oder Monitore treffen zu spät am Lager ein oder werden beim Transport beschädigt. Der Lagerist muss umplanen. Welcher Auftrag ist am wichtigsten? Können Komponenten aus einem anderen Auftrag entnommen und in das brandeilige Päckchen gelegt werden? Komponenten müssen neu zugeordnet, die Rangfolge der Aufträge neu strukturiert werden. Hier den Überblick zu behalten, ist eine echte Herausforderung. Aufträge verzögern sich oder gehen verspätet auf die Reise. Hier greifen die Algorithmen aus der Münchner Ideenschmiede bei Siemens. Das Insektenprogramm ordnet alle Aufträge komplett neu. Es schlägt dem Lageristen vor, wie er die Komponenten zuteilen und wann welches Päckchen auf die Reise gehen soll.

Um zu klären, wie man eine bestimmte Anzahl von Komponenten am besten den einzelnen Aufträgen zuordnet, lassen die Siemens-Forscher ihr Programm wie Ameisen arbeiten. „Wir tun dabei so, als befänden sich die Komponenten in einer Futterquelle, auf die die Ameisen zueilen“, erläuterte Runkler. „Ihre Aufgabe besteht darin, die Komponenten zu den Eingängen des Baus zurückzutragen, das heißt zu den verschiedenen Aufträgen.“ Die Ameisen laufen zunächst rein zufällig los. So wie in der Natur auch. Der kürzeste und schnellste Weg ergibt sich dann ganz von allein. Ameisen hinterlassen Duftmarken. Auf dem kürzesten Weg laufen pro Zeit statistisch die meisten Ameisen zwischen Futterquelle und Bau hin und her. Die Duftstoffkonzentration erhöht sich. Immer mehr Tiere werden angelockt. Die Arbeiterinnen finden so ganz automatisch die effektivste Route. Entsprechend ordnet das Programm Komponenten schnell und optimal den Aufträgen zu.

Um zu ermitteln, mit welcher Priorität die Aufträge das Lager verlassen müssen, hat Runkler das Hierarchie-Prinzip der Wespen abgeschaut. Jede Wespe hat eine bestimmte Aufgabe. Je wichtiger ihre Aufgabe ist, etwa die Nahrungssuche oder die Verteidigung des Baus, desto eher setzt sie sich gegen andere durch. Im mathematischen Modell entspricht ein Auftrag einer Wespe. Seine Bedeutung hängt beispielsweise von der Zahl der noch fehlenden Komponenten oder seiner eventuellen Verspätung ab. Steigt ein Auftrag schließlich in der Hierarchie ganz nach oben, geht er als erster auf die Reise.

Bislang, sagte Runkler, verfügen Logistikprogramme selten über eine solche Flexibilität. Heute werden Komponenten fest den Aufträgen zugeordnet. Wenn fehlende Teile nicht rechtzeitig antreffen, muss die gesamte Lieferung warten. „Zwar gibt es Verfahren, die Aufträge umplanen“, ergänzte der Forscher, „häufig aber geschieht das auf Basis einfacher Regeln – etwa Wenn-dann-Beziehungen.“ So könne man zwar spontan reagieren, um zum Beispiel wichtige Kunden vorrangig zu bedienen. Optimale Lösungen, die alle Aufträge berücksichtigen, ergeben sich damit aber nicht. Das Insektenprogramm geht deutlich weiter. Immerhin ist es in der Lage, das gesamte Auftragsvolumen spontan neu zu ordnen. Seine Zielvorgabe ist dabei, die Lieferverzögerung aller Aufträge zu minimieren. Dafür hat Runkler einen weiteren Lösungsansatz aus der Natur entlehnt – das Entscheidungsverhalten des Menschen. So ist jede Person in der Lage, unscharfe, qualitative Entscheidungen zu treffen. Beim Einparken eines Autos etwa bemüht man nicht den Zollstock, um die Parklücke zu vermessen, sondern schätzt und schaut mal links mal rechts, ob alles passt.

Derartige unscharfe Entscheidungen gibt es bislang nicht, wenn es um das Ausliefern von Warensendungen geht. „Hier gibt es nur ,ja’ oder ,nein’, ’ausliefern’ oder ,nicht ausliefern’ „, sagte Runkler. Um Prioritäten für Auslieferungszeitpunkte zu setzen, sei diese Vorgehensweise eher ungeeignet. Die Entwickler von CT kamen deshalb auf die Idee, die Auslieferung unscharf zu definieren. Experten sprechen bei einem solchen mathematischen Ansatz von Fuzzy-Logik (unscharfer Logik). Die Entscheidung für eine Auslieferung kann so Werte zwischen 0 und 100 Prozent annehmen. Der Auftrag mit der höchsten Prozentzahl verlässt schließlich als erster das Lager.

Verknüpft man die Ameisen-, Wespen- und Fuzzy-Modelle, arbeitet das Programm ausgesprochen effizient. Runkler: „In Experimenten haben wir nahe am optimalen Betrieb gearbeitet – mit einer Liefertreue von durchschnittlich 97 Prozent.“ Bei der Optimierung eines realen Logistiksystems gelang es, die Lieferverzögerungen um 44 Prozent zu reduzieren und somit die Anzahl der pünktlichen Lieferungen fast zu verdoppeln. Neben Logistikprozessen soll das Programm zukünftig auch in Werkshallen eingesetzt werden. Dort soll es vorschlagen, welche Werkstücke in welcher Reihenfolge auf welchen Linien gefertigt werden oder wo wie viele Bauteile vorgehalten werden. Noch wurde das Rechenmodell nicht im regelmäßigen Dauereinsatz geprüft. Erste Praxistests und Simulationen waren aber erfolgreich. Derzeit bereiten die Münchner Anwendungen für andere Geschäftsbereiche bei Siemens vor.

Media Contact

Guido Weber idw

Weitere Informationen:

http://www.siemens.com

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