Wie nützlich sind die Wirtschaftswissenschaften – wie sind die Wirtschaftswissenschaften nützlich?

Welche Erkenntnisse liefern die Modelle, Experimente und ökonometrischen Regressionen der wissenschaftlichen Forschung über die Wirtschaft – und warum und unter welchen Bedingungen sind diese sinnvoll für die Bewältigung realer Probleme?

Diese Frage ist das übergeordnete Thema der Diskussionen, die 17 Wirtschaftsnobelpreisträger und rund 450 Nachwuchsökonomen aus über 80 Ländern nächste Woche während der 5. Lindauer Tagung der Wirtschaftswissenschaften erörtern wollen.

Die Tagung lädt zu einem einzigartigen – Generationen, Kulturen und wissenschaftliche Hintergründe übergreifenden – Dialog ein. Eröffnet wird die Veranstaltung am 20. August mit einer Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Einen „Ausblick auf die Situation und die Aussichten für Lateinamerika” gewährt ein Vortrag von Mario Vargas Llosa, Literaturnobelpreisträger des Jahres 2010.

Vom 20. bis 23. August haben die teilnehmenden Nobelpreisträger und die jungen Wirtschaftswissenschaftler vielzählige Gelegenheiten zu einem intensiven Ideenaustausch. Die zahlreichen Vorträge, Diskussionsrunden, Meisterkurse und Podiumsdiskussionen, die auf dem Programm stehen, beschäftigen sich mit zentralen Feldern der Disziplin wie der Ökonometrie, der Spieltheorie, der Mechanismus-Design-Theorie, dem Neoklassischen Wachstumsmodell und Messungen systemischen Risikos im Finanzsystem.

Über die Frage „Wie nützlich sind die Wirtschaftswissenschaften – wie sind die Wirtschaftswissenschaften nützlich?” debattieren die drei Wirtschaftsnobelpreisträger Peter Diamond, Robert Merton und Alvin Roth am Samstag, dem 23. August auf der Insel Mainau. Moderiert wird diese Diskussion von Torsten Persson von der Universität Stockholm, Mitglied des Nobelpreis-Komitees für Wirtschaftswissenschaften. Als Ehrengast der Abschlussveranstaltung wird an diesem Tag Königin Silvia von Schweden erwartet.

Wirtschaftswissenschaften sind oftmals eine abstrakte Angelegenheit. Wirtschaftsmodelle werden generalisierend ohne Bezug auf eine spezielle Volkswirtschaft formuliert. Jede Theoriebildung erfordert Annahmen, die offenkundig unrealistisch sind. Und Laborexperimente finden in künstlichen Umgebungen statt, die erheblich von der realen Welt abweichen können. Ökonometrische Untersuchungen arbeiten häufig mit spezifischen Datensätzen, mit deren Hilfe die Forscher bestimmte Auswirkungen erkennen können.

Bei der abschließenden Podiumsdiskussion der Lindauer Tagung geht es um die Frage, warum und unter welchen Bedingungen die aus solchen Modellen, Experimenten und ökonometrischen Regressionen gewonnenen Erkenntnisse über ihre begrenzten Bereiche hinweg genutzt werden können und wie sie dazu beitragen können, Probleme in der realen Welt zu lösen.

Mehrere Vorträge werden sich bereits während der ersten drei Tage des Programms damit beschäftigen, wie die Wirtschaftswissenschaften zur Bewältigung real bestehender Probleme beitragen können.

Alvin Roth: „Matching Kidney Donors and Recipients”

Fast in jedem Land der Welt wurden inzwischen Gesetze verabschiedet, die eine Bezahlung von Nierenspenden verbieten. Dies ist ein Beispiel für einen Bereich, in dem der Markt als Regulierungsinstrument fungiert und die Vorteile der Abstimmung von Angebot und Nachfrage ohne monetäre Transaktionen erreicht werden müssen. Alvin Roth, dessen Vortrag solche „repugnant markets” zum Thema hat, hat das New England Program for Kidney Exchange, ein Tauschring-Modell für die Suche nach geeigneten Spender-Empfänger-Paaren für Organspenden, initiiert und dazu einen auf der Spieltheorie basierenden Algorithmus verwendet.

Und so funktioniert der Tausch: Wenn beispielsweise eine Frau ihrem erkrankten Ehemann eine Niere spenden möchte, die genetischen Kriterien aber nicht zusammenpassen, sucht das System nach einem Paar in einer ähnlichen Situation, um einen kompatiblen Tausch zu arrangieren. Das System ist eigentlich für zwei Paare konzipiert, um die Notwendigkeit der Koordinierung landesweiter Operationen zu reduzieren. Aber es hat auch schon für Ketten von bis zu sechs Paaren funktioniert.

Peter Diamond: „US Unemployment”

Die US-Wirtschaft erlebt eine höhere Arbeitslosigkeit als zuvor – bei einem gleichbleibenden Prozentsatz offener Stellen. Diese Verschiebung in der Beveridge-Kurve, die das Verhältnis zwischen Arbeitslosigkeit und offenen Stellen abbildet, lässt eine Verschlechterung in der Effizienz der Besetzung freier Stellen vermuten. Man ist versucht, diese Abnahme als strukturell bedingte Veränderung in der Funktionsweise des Arbeitsmarktes zu interpretieren.

Diese Deutung legt eine politische Schlussfolgerung nahe: So nützlich gesamtwirtschaftliche Stabilisierungsstrategien bei hoher Arbeitslosigkeit auch sein mögen – sie werden wahrscheinlich die Arbeitslosigkeit nicht auf das vor der Rezession bestehende Maß zurückdrängen können, weil der Arbeitsmarkt heute in Bezug auf eine erfolgreiche Stellenbesetzung strukturell weniger effizient funktioniert. Der Vortrag von Peter Diamond analysiert Theorie, Evidenz und politische Debatten zum US-Arbeitsmarkt.

Robert Merton: „Systemic Risk Measurement and Management”

Systemrisiken sind ein wichtiges Thema für Regierungen und große Investmentvermögen. Die zunehmende Globalisierung des Finanzsystems mit ihren sicherlich positiven Auswirkungen auf die Wirtschaftsentwicklung und das Wachstum erhöht auch den potenziellen Einfluss einer grenzüberschreitenden Ausbreitung systemischer Risiken, was eine adäquate Risikokontrolle und die Behebung von daraus hervorgehenden Schäden zu einem komplexeren und längeren Prozess werden lässt.
In seinem Vortrag wird Robert Merton ein Modell über die systemische Risikoausbreitung unter Finanzinstituten und Staaten vorstellen. Dieses Modell lässt sich nahezu kontinuierlich zu niedrigen Kosten mit ‚zukunftsbezogenen’ Daten aktualisieren und könnte deshalb geeignet sein, dynamische Veränderungen in solchen Verflechtungsstrukturen schneller zu erkennen als traditionelle Modelle.

Die Forschungsarbeiten zu diesem Projekt laufen zwar noch, aber der Ansatz und die empirischen Ergebnisse sind ermutigend. Auf jeden Fall scheint das Konzept ‚gute’ Fragen, wenn auch nicht schon alle Antworten darauf zu liefern, sodass politische Entscheidungsträger und Überwachungsinstanzen bessere Hinweise darauf erhalten, wo in der Vielzahl an möglichen Orten im globalen Finanzsystem Risiken zu suchen sind und wo Ressourcen zu ihrer Entdeckung eingesetzt werden sollten.

William Sharpe: „Economic Analysis of Retirement Income Strategies”

In den meisten Ländern steigt der Anteil älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung. Außerdem setzen die USA und andere Länder zunehmend darauf, dass die Bürger eine private Vorsorge zur Ergänzung der staatlichen Altersversorgung treffen. Das belastet den privaten Anleger mit der schwierigen Aufgabe, geeignete Strategien für die Bildung ausreichender Rücklagen für das Alter zu wählen.

Der Vortrag von William Sharpe beschäftigt sich mit Analysewerkzeugen, die diese Entscheidungsfindung unterstützen können. Ihr Einsatz wird anhand der Analyse eines komplexen Finanzproduktes verdeutlicht, das in Form eines Investmentfonds gemeinsam von einer Investmentgesellschaft und einer Lebensversicherung angeboten wird und einen lebenslangen Bezug von Leistungen garantiert.

Die Lindauer Tagungen

Seit ihrer Gründung im Jahr 1951 als Initiative zur Nachkriegs-Aussöhnung von Wissenschaftlern haben sich die Lindauer Nobelpreisträgertagungen zu einem weltweit einzigartigen Forum für den ungezwungenen Austausch unter Physiologen und Medizinern, Physikern und Chemikern entwickelt. Die Tagungen dienen dem Wissenstransfer, der Inspiration und der Vernetzung von Wissenschaftlern. Jedes Jahr kommen Nobelpreisträger und Nachwuchswissenschaftler aus der ganzen Welt in Lindau zusammen, um miteinander in einen generationenübergreifenden und interkulturellen Dialog zu treten. Die wirtschaftswissenschaftlichen Tagungen wurden im Jahr 2004 ins Leben gerufen. Hier haben einige der engagiertesten jungen Ökonomen der ganzen Welt die Gelegenheit, die Fragen zu stellen und die Themen zu diskutieren, die sie am meisten interessieren und bewegen.


Informationen für die Presse:

Die Lindau Nobel Laureate Meetings richten vom 19. bis 23. August 2014 die 5. Lindauer Tagung der Wirtschaftswissenschaften aus. Journalisten haben die Möglichkeit, sich online für eine Akkreditierung anzumelden:
http://accreditation.lindau-nobel.org/2014

Informationen zur Tagung und zum Tagungsprogramm sind im Internet zu finden unter:
http://mediatheque.lindau-nobel.org/meetings/2014-eco

Die folgenden 17 der 38 lebenden Träger des „Preises der Schwedischen Reichsbank für Wirtschaftswissenschaften im Gedenken an Alfred Nobel”, die gemeinhin als Wirtschaftsnobelpreisträger bezeichnet werden, nehmen an der Tagung teil: Robert Aumann, Peter Diamond, Lars Peter Hansen, Finn Kydland, Eric Maskin, Daniel McFadden, Robert Merton, James Mirrlees, Roger Myerson, Edmund Phelps, Edward Prescott, Alvin Roth, Reinhard Selten, William Sharpe, Christopher Sims, Vernon Smith und Joseph Stiglitz.

Die rund 450 teilnehmenden Nachwuchsökonomen – 37 Prozent davon Frauen – waren in einem mehrstufigen Bewerbungsverfahren, an dem sich über 200 akademische Einrichtungen auf der ganzen Welt beteiligt hatten, ausgewählt worden. Dem Netzwerk gehören außerdem 42 nationale Zentralbanken, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), der Internationale Währungsfond (IWF) und die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBWE) an.

http://mediatheque.lindau-nobel.org – Lindau Mediatheque
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http://www.lindau-nobel.org

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