Das Gröbste ist ausgestanden

Zwanzig Jahre ist die deutsche Wiedervereinigung mittlerweile her und noch immer stehen sich viele Ost- und Westdeutsche voreingenommen gegenüber.

„Im Grunde war bereits unmittelbar nach der Wende klar, dass der Vereinigungsprozess auch mental nicht ohne Unwuchten verlaufen wird“, sagt Professor Günter Jerouschek von der Friedrich-Schiller-Universität Jena. „Anfangs herrschte zwar die totale Vereinigungseuphorie, aber die gegenseitigen Differenzen, auch auf mentaler Ebene, waren schwer zu verleugnen“, so der Jurist und Psychoanalytiker weiter.

Zusammen mit Kollegen hat Jerouschek diesen Prozess in den vergangenen Jahren aus psychoanalytischer Sicht begleitet. Wie konstruktiv diese Begleitung war und wie diese gemeinsamen Treffen ost- und westdeutscher Psychoanalytiker den konfliktreichen deutsch-deutschen Vereinigungsprozess widerspiegeln, ist Schwerpunkt der diesjährigen Ost-West-Tagung, die am 4. und 5. September in Jena stattfindet.

„Erst unlängst erbrachte eine Befragung, dass Studenten den Osten jenseits aller Realitätsprüfung als verfallen, grau und zurückgeblieben ansehen“, sagt Prof. Jerouschek. Der Inhaber des Jenaer Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht und Geschichte des Strafrechts geht davon aus, dass diese Vorurteile noch über Jahre hinweg bestehen bleiben. Mittlerweile gibt es auch interessante klinische Befunde dafür, dass zur Wendezeit Pubertierende und Adoleszente psychische Auffälligkeiten und Symptome entwickelten, die sie psychischen Verwerfungen im Elternhaus verdanken. Trotzdem habe er in den vergangenen Tagungen eine positive Entwicklung wahrgenommen. So habe sich in der Gruppenarbeit gezeigt, dass die Differenzen beider Seiten mehr und mehr gegenseitig anerkannt werden. „Dass sich Ost- und Westdeutsche aufgrund ihrer unterschiedlichen Sozialisation voneinander unterscheiden, ist ganz natürlich“, so Jerouschek. „Sie tragen die Konflikte gewissermaßen stellvertretend aus.“ Wichtig sei jedoch, den Anderen nicht sofort zu be- oder abzuwerten, sondern sein Anderssein zu akzeptieren oder gar als Bereicherung anzusehen.

Der Austausch von klinischen Erfahrungen aus der psychoanalytischen Praxis im Rahmen der vergangenen Tagungen habe sogar gezeigt, dass der Ost-West-Konflikt mitunter gar nicht die entscheidende Rolle spielte. „Es gibt Fälle bei ostdeutschen Patienten, die sich genauso im Westen hätten abspielen können“, sagt Prof. Jerouschek und bezeichnet es als „ein Zeichen für Normalität“.

Sowohl die DDR als auch die alte BRD haben nach der Wiedervereinigung nicht mehr existiert. Wie jedoch die Alltagserfahrungen in beiden Systemen die kulturelle Identität der einzelnen Bürger im vereinten Deutschland geprägt haben, wollen die 80 Teilnehmer auf der Jenaer Tagung besprechen.

Das von der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung organisierte Fachsymposium findet in diesem Jahr zum 17. Mal statt und wird die Tagungsreihe nach zwanzig Jahren Wiedervereinigung abschließen. Um weitere Entwicklungen und Probleme angemessen reflektieren zu können, soll die Tagung in Zukunft nicht mehr jährlich, sondern in größeren zeitlichen Abständen stattfinden. „Das Gröbste im Vereinigungsprozess ist ausgestanden“, so Professor Jerouschek. „Das Thema wird uns auch weiterhin ein wichtiges Anliegen bleiben.“

Kontakt:
Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. Günter Jerouschek
Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Geschichte des Strafrechts
Rechtswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Carl-Zeiß-Str. 3, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 942310
E-Mail: G.Jerouschek[at]recht.uni-jena.de

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Manuela Heberer idw

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