Nach Scham und Wut – Dürfen die Deutschen wieder stolz sein?

Die Fußball-Weltmeisterschaft im vergangenen Jahr versetzte ganz Deutschland in einen Freudentaumel. Selbst Menschen, die ansonsten wenig mit Sport verbindet, konnten sich dem nicht entziehen. Stolz war das dominierende Gefühl quer durch alle sozialen Schichten und Altersgruppen, in Ost wie in West.

„Das war kein Zufall, sondern Symptom dafür, dass sich die Deutschen inzwischen auch wieder so ein Gefühl wie Nationalstolz leisten“, sagt Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. Günter Jerouschek. Vorher sei das durch die besondere deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert verpönt und für einige auch jetzt unheimlich gewesen, betont der Rechtswissenschaftler der Friedrich-Schiller-Universität Jena und praktizierende Psychoanalytiker. Diese wiedergewonnene patriotische Normalität sei vor allem in der jüngeren Generation zu beobachten, die „scheinbar nichts mehr mit der deutschen Unrechtsgeschichte zu tun hat“. Die auf den ersten Blick unpolitische WM sei insofern das richtige Ereignis zum richtigen Zeitpunkt gewesen, bekräftigt er.

Wie sich dieser neue Stolz einer ganzen Nation zu Scham und Wut verhält, die nach der deutschen Wiedervereinigung auf beiden Seiten um sich griffen und viele Menschen bis heute krank machen, wollen Psychotherapeuten auf der diesjährigen Ost-West-Tagung der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung (DPV) diskutieren. Dazu werden am 28. und 29. September rund 80 Experten an der Jenaer Universität erwartet. Sie setzen sich unter dem Motto „Scham – Wut – Stolz“ unter anderem mit RAF und Stasi in Rückblicken von 68ern aus Ost und West auseinander, thematisieren den Konflikt Heranwachsender zwischen Selbstdarstellungsdrang und Beschämungsangst und debattieren „Über die Wut, ein Ostdeutscher zu sein“.

Anliegen der 1993 initiierten, jährlichen Ost-West-Tagung ist es, den Vereinigungsprozess zu begleiten und daraus erwachsende Themen zu diskutieren. Wider Erwarten hätten sich diese auch 17 Jahre nach dem Mauerfall nicht erledigt, nicht zuletzt deshalb, weil immer noch unterschiedliche Strukturen der Sozialisation vorhanden seien, macht Prof. Jerouschek deutlich. „Diese Unterschiede werden uns latent noch lange Jahre erhalten bleiben“, ist er sicher.

Die Ost-West-Tagung diskutiere oftmals Themen, „die erst später gesellschaftlich relevant werden, sich aber bei unseren Patienten schon abzeichnen“. Die Scham etwa als jenes Gefühl, mit dem viele Ostdeutsche „ihre Befindlichkeit dem Westen gegenüber erleben“. Doch auch die im Westen vorherrschende Indifferenz bis hin zur Ignoranz basiere auf „abgewehrten Schamaffekten angesichts der Bevorzugung durch das Nachkriegsschicksal“, meint der Experte. Dennoch halte man den Ostdeutschen Undankbarkeit und Unbescheidenheit vor, was wiederum diese beschäme.

„Wenn ich aber über ein gewisses Maß hinaus beschämt und damit entwertet werde, entwickle ich Wut.“ Sie sei stark von der eigenen Realitätssicht und der Frustrationstoleranz abhängig, könne aber mit Kontrollverlust und Affekthandlungen einhergehen. „Andererseits macht es mich stolz, wenn ich jemanden beschämen kann“, veranschaulicht Prof. Jerouschek den Zusammenhang. Hinsichtlich des Nationalstolzes müsse es das Ziel sein, ihn in einem solchen Maß zu entwickeln, dass sich andere nicht verletzt fühlten.

Kontakt:
Prof. Dr. Dr. Dr. h. c. Günter Jerouschek
Rechtswissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena
Carl-Zeiß-Straße 3, 07743 Jena
Tel.: 03641 / 942310
E-Mail: g.jerouschek[at]recht.uni-jena.de

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Uschi Lenk idw

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