Individuelle Stärken und Risiken schon im Kindergarten erkennbar

Wann wird die Persönlichkeit eines Menschen geformt? Sind Kinder, die schon im Vorschulalter ihre ersten Buchstaben malen, später die Klassenbesten? Bekommt der, der früh verhaltensauffällig ist, als Erwachsener Probleme, sich in die Gesellschaft zu integrieren? Antwort auf solche Fragen soll ein Symposium bei der 13th European Conference on Developmental Psychology geben. Diese bedeutendste Tagung der europäischen Entwicklungspsychologen wird vom 21.-27. August 2007 durch das Center for Applied Developmental Science (CADS) der Friedrich-Schiller-Universität Jena ausgerichtet.

Um solche Fragen zu beantworten, können die Entwicklungspsychologen auf eine einmalige Datensammlung zurückgreifen: die LOGIK-Studie – die Abkürzung steht für „Longitudinalstudie zur Genese individueller Kompetenzen“ -, begonnen 1984 vom damaligen Max-Planck-Institut (MPI) für psychologische Forschung in München. „Diese Längsschnittstudie ist in Umfang und Dauer einzigartig“, sagt Prof. Dr. Wolfgang Schneider vom Institut für Psychologie der Universität Würzburg, der das Symposium „Kognitive und Persönlichkeitsentwicklung vom Vorschulalter bis ins frühe Erwachsenenalter: Die wichtigsten Erkenntnisse der Münchner Longitudinalstudie“ leitet.

„Professor Dr. Franz E. Weinert, seinerzeit Direktor des MPI für psychologische Forschung, rekrutierte im Oktober 1984 mit seinem Wissenschaftlerteam eine Gruppe von 210 drei- und vierjährigen Kindern, die gerade in den Kindergarten aufgenommen worden waren“, berichtet Schneider. Ihre Entwicklung sollte unter Einbeziehung einer Vielzahl von kognitiven und Persönlichkeitsmerkmalen möglichst umfassend über einen längeren Zeitraum beobachtet werden. „Die beteiligten Forscher aus dem In- und Ausland interessierten sich besonders für die Frage, wann und wie sich kognitive, soziale und motorische Kompetenzen sowie individuelle Merkmale zeigen. Sie wollten zudem herausfinden, wann stabile individuelle Unterschiede in den Fähigkeiten und in der Persönlichkeit von Kindern sichtbar werden und welche 'Entwicklungslogiken' sich beobachten lassen.“

Bis 1993 wurden die Studien sehr intensiv betrieben, jedes Kind wurde drei Mal im Jahr etwa acht Stunden lang in Einzelsitzungen befragt und untersucht. Nachuntersuchungen fanden 1998 und 2003/04 statt. Das Forscherteam wurde dabei durch Professor Wolfgang Schneider geleitet, der die von der Volkswagen-Stiftung unterstützte Studie bis zu ihrem Abschluss im Jahre 2005 verantwortlich weiterführte.

Was sind die wichtigsten Befunde der LOGIK-Studie hinsichtlich der Entwicklung von Intelligenz, Gedächtnis, Moral und Persönlichkeit?

„Intelligenz scheint in relativ frühen Jahren relativ festgelegt“, sagt Prof. Schneider, der gemeinsam mit Jan Stefanek Intelligenztests vor allem als „Kontrollaufgaben“ verwendete, um die Bedeutung intellektueller Fähigkeiten für ganz unterschiedliche Bereiche – Gedächtnis, Motorik, Persönlichkeitsbildung – zu bestimmen. Die Forscher interessierten sich auch für das Phänomen und die Entwicklung der Intelligenz in unterschiedlichen Altersstufen. Außerdem wurde der Zusammenhang von sprachlicher und nichtsprachlicher Intelligenz untersucht.

Eines der wichtigsten Ergebnisse zur Intelligenzentwicklung: „Aus den im Alter von vier Jahren ermittelten IQ-Werten ergab sich eine überdurchschnittlich gute Vorhersagbarkeit der Intelligenz im Alter von sechs Jahren“, resümiert Schneider. „Die IQ-Werte eines Sechsjährigen ließen dann sogar eine sehr gute Vorhersagbarkeit späterer Intelligenzwerte zu.“

Dass in frühem Alter relativ unabhängige Kompetenzen später konvergieren können, zeigt die Untersuchung der Wechselwirkung von (Test-)Intelligenz und der Fähigkeit zu logischem Denken: Im Vorschulalter konnte keine bedeutsame Beziehung zwischen beiden Merkmalen nachgewiesen werden. In der Schulzeit war die Beziehung zwischen den Ergebnissen psychometrischer Intelligenztests und Tests zur Erfassung des formal-logischen Denkens dann stärker ausgeprägt.

Was die absolute Intelligenz – gemessen über die Anzahl der in einem IQ-Test richtig beantworteten Aufgaben – anbelangt, so nimmt diese bis ins Jugendalter hinein zu. Das gilt für sprachliche wie nichtsprachliche Intelligenz. Letztere steigert sich noch bis ins frühe Erwachsenenalter. Und während sich die sprachliche Intelligenz je nach gewählter Schulart unterschiedlich stark entwickelt – Gymnasiasten haben einen günstigeren Entwicklungsverlauf als Hauptschüler – trifft dies für die nonverbale Intelligenz so nicht zu.

Die Gedächtnisentwicklung vom Vorschul- bis zum frühen Erwachsenenalter

Auch die Gedächtnisentwicklung vom Vorschul- bis zum frühen Erwachsenenalter ist ein wichtiger Forschungsgegenstand der Studie. Daran beteiligten sich neben Professor Schneider auch Professorin Dr. Monika Knopf von Institut für Psychologie der Universität Frankfurt am Main und Professorin Dr. Beate Sodian vom Department für Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Wissenschaftler gingen insbesondere der Frage nach, ob das verbale, sprachgebundene Gedächtnis einen homogenen Inhaltsbereich darstellt. In diesem Fall wären die einzelnen Bestandteile – verbale Kurzzeitgedächtniskapazität, strategisches Gedächtnis und Gedächtnis für Geschichten und Texte – von Anfang an eng miteinander verbunden.

Was die Kapazität des verbalen Kurzzeitgedächtnisses betrifft, so legen die Befunde nahe, dass sie ab dem 17. Lebensjahr nicht mehr ansteigt – bis zu diesem Zeitpunkt verbessert sich die Kurzzeitgedächtnisleistung langsam und beständig. Für das strategische Gedächtnis sah die Entwicklungskurve weniger linear aus: Die meisten Kinder erwarben Lernstrategien schnell und abrupt, wobei sich mit dem Erwerb der Strategie die Leistung in der betreffenden Aufgabe beträchtlich verbesserte. Beim Gedächtnis für Texte ergab sich erwartungsgemäß eine schrittweise Verbesserung der Lern- und Gedächtnisfähigkeit. Überrascht waren die Wissenschaftler von dem Resultat, dass frühzeitig existierende individuelle Unterschiede in der Güte der Reproduktion vergleichsweise stabil blieben: Kinder, die sich in jungen Jahren an Texte und Geschichten besser als andere erinnern können, behalten auch als Jugendliche und junge Erwachsene einen Vorsprung. Der Einfluss des Schultyps hingegen scheint eher begrenzt zu sein, berichtet Schneider: „Spätere Gymnasiasten unterscheiden sich bereits ab vier Jahren in ihren Gedächtnisleistungen von späteren Hauptschülern, wobei die Vorteile der späteren Oberschüler von Anfang an beträchtlich sind.“

Die ursprüngliche Annahme der Wissenschaftler, dass die drei Gedächtniskomponenten in der frühen Phase eng korrelieren und sich erst später ausdifferenzieren, wurde nicht bestätigt. Die Korrelationen waren von Anfang an moderat und änderten sich nur unwesentlich. Dieser überraschende Befund legt nahe, dass es doch mehrere unterschiedliche Teilkomponenten des sprachgebundenen Gedächtnisses gibt, die bei derselben Person durchaus differieren können.

Die Entwicklung der moralischen Motivation

Die Entwicklung der moralischen Motivation untersuchte Professorin Dr. Gertrud Nunner-Winkler vom Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften München. Dazu legte sie Kindern im Alter von vier, sechs und acht Jahren Bildgeschichten vor, in denen der Held einfache moralische Regeln übertritt, zum Beispiel Süßigkeiten entwendet. Das Ergebnis: 98 Prozent der Vierjährigen sagten anschließend: Süßigkeiten stehlen darf man nicht, das ist böse. Schon früh kennen und verstehen Kinder moralische Regeln.

Allerdings ist dieses Wissen nicht unbedingt auch mit moralischer Motivation verbunden, also mit der Bereitschaft, das Richtige zu tun, auch wenn es der eigenen Person Nachteile bringt. Auf die Frage, wie sich der Süßigkeiten-Dieb nach seiner Tat fühle, antworteten 80 Prozent der Kinder: Gut – immerhin habe er ja jetzt die Bonbons. Ihr Fazit: Über den Zeitraum von vier bis 22 Jahren steigt die Stärke moralischer Motivation im Durchschnitt kontinuierlich an. „Dabei bleiben aber die wenigsten moralisch stabil. Das heißt: Die Person ist nicht festgelegt, sie ändert sich noch bis ins frühe Erwachsenenalter“, so die Wissenschaftlerin. Immerhin betrachten noch gut 20 Prozent der 22-Jährigen Moral als wenig bedeutsam.

Ab einem Alter von acht Jahren bilden sich zudem Geschlechterdifferenzen heraus, die sich im weiteren Verlauf verstärken. Eine Erklärung dafür sieht Nummer-Winkler in Geschlechtsstereotypien. Diese weisen Männern eher moralabträgliche Eigenschaften zu, zum Beispiel „durchsetzungsfähig“, und Frauen moralförderliche Merkmale wie „hilfsbereit“. Der Grad der geschlechtsspezifischen Motivation hängt von der Identifikation mit der eigenen Rolle ab, meint die Professorin: „Bei hoher Geschlechtsidentifikation haben Jungen eine niedrigere, Mädchen eine höhere moralische Motivation.“

Die Entwicklung früher Aggressivität und Schüchternheit und die Auswirkungen auf die spätere Persönlichkeit

Die Entwicklung früher Aggressivität und Schüchternheit und die Auswirkungen auf die spätere Persönlichkeit erforschen Dr. Jens B. Asendorpf, Professor für Psychologie an der Humboldt-Universität Berlin, Professor Dr. Marcel van Aken und Dr. Jaap Denissen, beide Universität Utrecht/Niederlande. Ihre Erkenntnisse sind ernüchternd: Dreijährige, die sich im Kindergarten auffällig aggressiv verhalten, bleiben überdurchschnittlich aggressiv und haben als junge Erwachsene wesentlich öfter Scherereien mit der Polizei. Was die Bildung betrifft, so waren diese jungen Leute so genannte Underachiever, das heißt, sie erreichten selten den Abschluss, den man aufgrund des in den Tests ermittelten Intelligenzquotienten erwarten sollte. „Aggressive Kinder haben im Berufsleben auch seltener eine Vollzeitstelle, als dies angesichts ihres Bildungsabschlusses zu erwarten wäre“, so Asendorpf. Als „besonders besorgniserregend“ bezeichnet der Wissenschaftler die Tatsache, dass die aggressiven Kinder zwischen 18 und 23 Jahren im Mittel zwölf Mal mehr Strafanzeigen erhielten als die Kontrollgruppe. Bei der Interpretation des Befunds müsse jedoch berücksichtigt werden, dass Aggressive bei Straftaten häufiger auffallen und in die Mühlen der Justiz geraten als andere, die dieselben Vergehen unauffälliger begehen. Dennoch bleibe Aggressivität im Kindergartenalter ein Risikofaktor für Aggressivität, Underachievement und Kriminalität im Erwachsenenalter.

Media Contact

Anke Müller idw

Weitere Informationen:

http://www.esdp2007.de/index.htm

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