Neue Einblicke ins Hirn – Lübecker Neurologen erforschen Augenbewegungen

In den Lübecker Forschungslabors werden Probanden und Patienten mit Elektroden versehen, mit denen die Hirnaktivität gemessen werden kann

Deutsche Gesellschaft für Neurophysiologie tagt in der Hansestadt

Kennen Sie das: In ein Buch vertieft warten Sie, dass ihr Zug endlich abfährt. Nach einiger Zeit schauen Sie auf und blicken aus dem Fenster. Die Waggons auf dem Nachbargleis rollen. Oder ist es doch Ihr Zug, der unbemerkt losgefahren ist? Erst wenn Sie auf den Bahnsteig blicken, bekommen Sie Gewissheit.

„Sinneseindrücke können uns leicht einen Streich spielen“, erklärt Prof. Dr. Detlef Kömpf, Direktor der Lübecker Universitätsklinik für Neurologie. Die modernen Wissenschaften haben solche Phänomene zum großen Teil entschlüsselt. Mit bildgebenden Methoden und elektrischen Ableitungsverfahren werden Vorgänge im Hirn sicht- und messbar gemacht, die der Medizin künftig neue Perspektiven eröffnen. Bei der 47. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Neurophysiologie, die vom 17. – 20. Oktober in der Lübecker Musik- und Kongresshalle stattfindet, werden neueste Einblicke ins und übers Hirn vorgestellt und diskutiert. Kongresspräsident Kömpf erwartet 800 Experten aus dem In- und Ausland.

Klinische Neurophysiologen befassen sich vor allem mit der Funktionsweise des Nervensystems. Ein besonderer Schwerpunkt der Lübecker Spezialisten liegt in der Erforschung der Augenbewegungen, der so genannten Okulomotorik. „Störungen der Augenbewegungen treten bei einem Drittel aller neurologischen Erkrankungen auf. Die Patienten klagen über Doppelbilder, unwillkürliche Augenbewegungen und Schwindelattacken“, erläutert Prof. Kömpf. Bei Multipler Sklerose zum Beispiel mache sich in ca. 40 Prozent der Fälle die Krankheit erstmals mit Sehstörungen bemerkbar. In der Gesamtbevölkerung seien die Symptome genauso verbreitet wie etwa Kopfschmerzen, sagt Kömpf, doch werden sie in der ärztlichen Praxis eher stiefmütterlich behandelt.

In einer Spezialsprechstunde der Lübecker Neurologischen Klinik, zu der Patienten aus ganz Deutschland anreisen, werden die Symptome abgeklärt und gegebenenfalls weiter untersucht. Die leidgeprüften Patienten haben oft eine Reihe verschiedener Arztbesuche hinter sich, ohne dass ihnen geholfen werden konnte.

Das Sehen ist ein komplexer und komplizierter Vorgang, an dem die Augenbewegungen in besonderem Maße beteiligt sind. „Die visuelle Wahrnehmung muss stabil gehalten werden, sonst würde man nur noch taumeln. Diese Stabilität gewinnen wir durch die Bewegungen unserer Augen“, erklärt Prof. Kömpf. Ganz gleich, ob sich die Umwelt bewegt (z.B. der Gesprächspartner aufsteht und durch den Raum geht) oder man selbst zur Tür schreitet – die Erhaltung der Raumkonstanz ist essentiell für eine ungestörte Wahrnehmung und Orientierung.

Die Steuerung der Augen erfolgt über das Gehirn. Besonders beteiligt sind hier spezielle Zentren der Hirnrinde und des Hirnstamms. Eng verknüpft mit diesem System ist das Gleichgewichtsorgan (vestibulares System), dessen Impulse direkt zu den entsprechenden Hirnzentren gelangen, die für die Augenbewegungen verantwortlich sind. Abhängig sind die okulomotorischen Abläufe von beiden.

Neugier und Aufmerksamkeit sind weitere Steuerungselemente: Permanent strömt eine Vielzahl an Informationen über die Augen in das Gehirn. Diese werden, je nach persönlicher Neigung, in Windeseile gefiltert, bevor das entsprechende Bild im Kopf entsteht. Worauf wir unsere Aufmerksamkeit nun richten, dorthin bewegen sich auch die Augen.

Wie die einströmenden Bilder im Kopf entstehen, welche Hirnaktivitäten bei bestimmten Augenbewegungen in Gang gesetzt und wie die gewonnenen Eindrücke verarbeitet werden – das heraus zu bekommen ist letztlich das Ziel neurophysiologischer Untersuchungen. Traditionell gelingt dies mit elektrischen Messungen, bei denen Elektroden an Kopf- oder Gesichtsoberfläche befestigt und die elektrische Aktivität des Nervensystems (EEG), von Muskeln oder Augenbewegungen abgeleitet werden. In den vergangenen Jahren sind weitere Methoden hinzu gekommen: Per Ultraschall wird die Blutversorgung des Gehirns geprüft, mit der funktionellen Magnetresonanztomographie (fMRT) die Sauerstoffsättigung des Blutes und somit der Aktivitätszustand abgrenzbarer Hirnrindenareale.

Mit dem neuen bildgebenden Verfahren fMRT, das ohne Röntgenstrahlen auskommt, kann die Aktivität im Gehirn dreidimensional exakt lokalisiert werden; die gesteigerte Durchblutung der beteiligten Hirnregionen lässt sich mit sehr präzisen Bildern belegen. Die Kombination der verschiedenen Methoden ermöglicht den Schluss, zu welchem Zeitpunkt welcher Ort im Hirn für geistige Tätigkeiten aktiviert wird.

Dies ist für das Verständnis von Erkrankungen des Gehirns von großer Bedeutung. So weiß man inzwischen zum Beispiel, dass Aufgaben bestimmter Hirnzentren, die bei einem Schlaganfall in Mitleidenschaft gezogen worden sind, von anderen Regionen übernommen werden (Neuroplastizität). Weil das Gehirn flexibel ist, gelingt es dem Patienten, wieder zu sprechen oder die gelähmte Hand zu bewegen. „Letztendlich“, so Prof. Kömpf, „lassen sich aus den sich ergänzenden Diagnosemöglichkeiten nicht nur Therapien ableiten. Auch die Wirksamkeit der eingeschlagenen Behandlung kann mit neurophysiologischen Verfahren überprüft werden.“

So könnten Wirkmechanismen von Medikamenten bei Parkinson-Patienten oder die veränderte Vernetzung der Nerven bei Schizophrenie untersucht werden. Auch auf Planung und Durchführung von Rehabilitationsmaßnahmen bei neurologischen Ausfällen nach Unfall, Lähmung oder Hirninfarkt haben die Methoden Auswirkungen.

Die außergewöhnlichen Untersuchungen zur Bedeutung der Augenbewegungen, die ähnlich nur noch in ganz wenigen deutschen Universitäten vorgenommen werden, sind ein wesentlicher Beitrag der Lübecker Wissenschaftler zum neuen Forschungsverbund „NeuroImage Nord“. Gefördert mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) sowie der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) arbeiten die norddeutschen Hochschulen Lübeck, Kiel und Hamburg seit diesem Jahr auf dem Gebiet der Hirnforschung zusammen. Das BMBF hat hierzu einen extrem leistungsstarken Magnetresonanztomographen finanziert, der im Hamburger UKE stationiert ist, von allen Kliniken aber gleichermaßen genutzt werden kann. Mit dem 2,5 Millionen Euro teuren so genannten 3-Tesla-Gerät lassen sich selbst kleinste Aktivitätsveränderungen im Gehirn erkennen. Die DFG übernimmt zusätzlich innerhalb des Forschungsverbundes für vorerst fünf Jahre die Personalkosten mehrerer Wissenschaftler; die Lübecker fMRT-Forschung koordiniert Priv.-Doz. Dr. Ferdinand Binkofski.

Das Gerät für die fMRT, das einem klassischen Kernspintomographen (MRT) entspricht, wird nicht nur zur Diagnostik, sondern auch zu Forschungszwecken eingesetzt. Deshalb werden Gehirnfunktionen und -strukturen von gesunden Probanden untersucht und mit denen von Erkrankten verglichen. Während der Untersuchung führt der Proband eine vorgegebene Tätigkeit aus: Er muss z.B. eine Hand bewegen, sich ein Bild anschauen, bestimmte Denkaufgaben lösen oder Töne hören. Im MRT können die Wissenschaftler dann erkennen, welche Hirnregion bei welcher Tätigkeit aktiviert war. Von den vergleichenden Untersuchungen erhoffen sich die Wissenschaftler neue Erkenntnisse über Hirnprozesse bei Erkrankten, die eines Tages in therapeutische Empfehlungen münden können.

Bei den fahrenden Zügen handelt es sich tatsächlich um eine Sinnestäuschung, um deren Aufklärung wir uns aktiv bemühen müssen. Denn sowohl bei der rein visuellen Bewegung als auch bei der tatsächlichen werden die gleichen Schaltzentralen im Hirn stimuliert. Alltagsphänomene haben immer auch eine gewisse Aussagekraft. In diesem Fall, sagt Prof. Kömpf und lacht, könne man selbst auf dem Bahnsteig erfahren, wie das Gehirn funktioniert.

Media Contact

Uwe Groenewold idw

Weitere Informationen:

http://www.neuro.uni-luebeck.de

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