Höhere Hirnfunktionen: Präzis getaktet zum Bewusstsein

In der zeitlichen Bindung von Nervenzell-Verbänden, die ihre elektrischen Entladungen mit höchster Präzision im Millisekundenbereich synchronisieren, liegt der Schlüssel zum Verständnis höherer Hirnfunktionen: Davon sind der Jülicher Hirnforscher Andreas Engel und sein Frankfurter Kollege Wolf Singer überzeugt, zwei Pioniere der aktuellen neurobiologischen Revolution. Denn eine Fülle experimenteller Hinweise untermauert diese vor 20 Jahren formulierte und zunächst unbeachtet gebliebene „Korrelationstheorie der Hirnfunktion“. Wie aus der Zusammenarbeit zeitlich synchronisierter Nervenzell-Verbände zumindest das so genannte Wahrnehmungsbewusstsein hervorgehen könnte, erläutert Engel in einem Presseseminar im Rahmen der Göttinger Neurobiologentagung am 9. Juni 2001

Wie entsteht die Welt in unserem Kopf? Warum erscheint sie uns als einheitliches, zusammenhängendes Phänomen – obwohl doch Neurobiologen seit langem wissen, dass unser Gehirn zum Beispiel Sinneswahrnehmungen in mehreren Dutzend verschiedenen Arealen und zudem in unterschiedlicher Geschwindigkeit verarbeitet? Was „bindet“ die Nervenzellen in den oft weit voneinander entfernten Arealen zusammen? Und: Kann die Aktivität vieler solcher Nervenzell-Verbände jenen mentalen Zustand erzeugen, den wir „Bewusstsein“ nennen?

Worüber Philosophen wie Renè Descartes („Ich denke, als bin ich“) seit Jahrhunderten rätselten, rückte in den beiden letzten Jahrzehnten zunehmend ins Zentrum des Interesses der Neurobiologen. Den theoretischen Schlüssel für das Tor zur experimentellen Erkundung des Bewusstseins lieferte ihnen die 1981 von Christoph von der Malsburg formulierte „Korrelationstheorie der Hirnfunktion“ – ein radikal neues Konzept, wie der Kosmos im Kopf funktionieren könnte: keine Zentrale und kein starres Programm, dafür eine zeitliche Verknüpfung (die „Korrelation“) der Aktivitäten von Nervenzell-Verbänden, die sich augenblicklich und je nach Bedarf selbst zu Zweckbündnissen zusammenschließen, um bestimmte Aufgaben gemeinsam zu lösen. Damit öffnete sich ein eleganter Weg aus dem „Bindungsproblem“ der Hirnforscher.

Diese Idee war vor 20 Jahren allerdings zu revolutionär: Der studierte Physiker von der Malsburg – heute Professor an der Ruhr-Universität Bochum – konnte sie damals nur als weitgehend unbeachteten „Internen Report 81-2“ des Max-Planck-Instituts für biophysikalische Chemie in Göttingen, wo er seinerzeit arbeitete, veröffentlichen. Erst 1987 entdeckten Wolf Singer, Direktor am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt, und sein US-amerikanischer Forschungsgast Charles Gray ungewöhnliche elektrische Oszillationen im Frequenzbereich um 40 Hertz (Schwingungen pro Sekunde) in einem fürs Sehen zuständigen Hirnrindenbereich narkotisierter Katzen. Ähnliche Phänomene registrierte etwa zur selben Zeit ein Team um Reinhard Eckhorn von der Universität Marburg.

Damit war der Damm gebrochen. Seitdem untermauert eine wachsenden Zahl experimenteller Ergebnisse die Existenz zeitlich synchronisierter Entladungen von Nervenzell-Verbänden – auch neuronale Ensembles genannt – in tierischen und menschlichen Gehirnen. Vor allem die Forschergruppe um Wolf Singer, der auch der studierte Mediziner und Philosoph Andreas Engel bis zum Jahr 2000 angehörte, trug mit ihren Arbeiten wesentlich zur Aufklärung bei, welche Rolle die synchronisierten Oszillationen in hoch entwickelten Gehirnen spielen.

Heute, berichtet Andreas Engel, der inzwischen am Forschungszentrum Jülich arbeitet, „weisen zahlreiche Arbeiten darauf hin, dass diese zeitlichen Korrelationen tatsächlich eine Bindungsfunktion haben“ – und das nicht nur bei der Verarbeitung von Sinneseindrücken oder beim Steuern komplizierter Bewegungsabläufe: Die zeitliche Bindung neuronaler Ensembles, die ihre Aktivität höchst präzise im Millisekunden-Bereich synchronisieren, könnte nach Meinung Engels und Singers auch „entscheidend für die Entstehung von Bewusstsein“ sein.

Wie diese höchst komplexen Vorgänge ablaufen können, erläutern die beiden Neurobiologen in ihrer Hypothese der „neuralen Korrelate des Bewusstseins“ (englisch: „Neural Correlates of Consciousness“, kurz NCC), die sie kürzlich in der Fachzeitschrift „Trends in Cognitive Sciences“* vorstellten. Demnach sind die „Mechanismen der zeitlichen Bindung“ entscheidend an den vier Hirnleistungen „Gewahrwerden“ (das im Englischen „arousal“ genannte „Aufwecken des Gehirns“), „Integration von Sinneswahrnehmung“ (perceptual integration), „Auswahl der Aufmerksamkeit“ (attentional selection) und „Arbeitsgedächtnis“ (working memory) beteiligt. Ohne diese Fähigkeiten wäre ein Gehirn, davon sind die Hirnforscher überzeugt, nicht in der Lage, den „phänomenalen Zustand“ Bewusstsein hervorzubringen. Allerdings beschränken sich Engel und Singer fürs erste „auf einen elementaren Aspekt, nämlich das primäre Wahrnehmungsbewusstsein“. Über diese im Englischen „sensory awareness“ genannte Eigenschaft verfügen offensichtlich nicht nur menschliche Gehirne, sondern auch die hoch entwickelten zentralen Nervensysteme anderer Säugetiere. Sie bildet, wie Andreas Engel erläutert, „eine frühe – vorsprachliche und vorbegriffliche – Verarbeitungsstufe, auf der sich das ,Gewahrwerden’ sensorischer Qualitäten abspielt“. Diese Ebene unterhalb des menschlichen Selbst-Bewusstseins ist, wie der Forscher und seine Kollegen hoffen „möglicherweise diejenige Bewusstseinsleistung, die am leichtesten der empirischen Erfassung und der theoretischen Erklärung zugängig ist“. Also dient sie gleichsam als eine Art Basislager für den Gipfelsturm hinauf zu den Höchstleistungen den Menschenhirns.

In der Tat häufen sich in jüngster Zeit die Resultate aus Untersuchungen an Mensch und Tier, so begründen Engel und Singer ihre NCC-Hypothese, „dass spezifische Änderungen in der neuronalen Synchronie während all dieser (vier) Prozesse auftreten“. Mehr noch: Diese Änderungen „sind durch die Emergenz“ – das plötzliche Auftauchen – „schneller Oszillationen gekennzeichnet“, und zwar bevorzugt im Frequenzbereich zwischen 30 und 80 Hertz, dem so genannten Gamma-Band.

Aus den vorliegenden experimentellen Erkenntnissen ziehen Engel und Singer folgende – hier gekürzt zusammengefasste – Schlüsse für ihre NCC-Hypothese: 1. Jene neuronalen Systeme, die im Gehirn das Gewahrwerden steuern, könnten die Wirksamkeit der Mechanismen für die zeitliche Bindung verändern. Dies wiederum könnte sowohl die räumliche Ausdehnung der kooperierenden Nervenzell-Verbände als auch die Art der Zusammenarbeit beeinflussen. Beides trüge zu einer spezifischeren Informationsverarbeitung bei.

2. Die Integration von Sinneswahrnehmungen wird durch die Synchronisation der dazu notwendigen neuronalen Assemblies möglich: Sie erlaubt diesen Nervenzell-Verbänden, spezielle Beziehungen untereinander zu knüpfen und die relevanten Informationen funktionell zusammenhängend zu bearbeiten.

3. Die Auswahl der Aufmerksamkeit wird durch die neuronale Synchronisierung gefördert, da zeitliche Übereinstimmungen von anderen Nervenzell-Verbänden leichter „entdeckt“ werden können als zeitlich ungeordnete Signale. Die Auswahl der Aufmerksamkeit kann sowohl von unten nach oben („bottom-up“, etwa durch neue Sinnesreize) als auch von oben nach unten („top-down“, zum Beispiel durch Erwartung oder Gedächtnisinhalte) kontrolliert werden.

4. Synchronisierte Nervenzell-Verbände können ihren Zustand für einige Zeit stabilisieren. Dies könnte die Basis für das Arbeitsgedächtnis sein, das ja den jeweiligen sachlichen Inhalt der verschiedenen zusammenarbeitenden neuronalen Assemblies für einige Zeit „halten“ muss. Und die Information, die von solchen Assemblies während einer Arbeitsgedächtnis-Phase gehalten wird, könnte ins Bewusstsein vordringen.

„Unser Vorschlag“, fassen Engel und Singer mit vorsichtiger Zurückhaltung zusammen, „könnte dazu beitragen, den Zusammenhalt der Bewusstseinsinhalte sowie die Mechanismen für die Auswahl der Sinneswahrnehmungen zu erklären. Darüber hinaus könnte dieses Modell die ’globale Verfügbarkeit’ von Bewusstseinsinhalten erklären“ – die von teilweise sehr unterschiedlichen Hirnarealen gleichzeitig bereitgehaltene Information, die „zum Beispiel beim Planen von Handlungen oder beim Sprechen nötig ist“.

Zumindest ein starker experimenteller Hinweis, dass die Synchronisation von Nervenzell-Verbänden auch beim menschlichen Bewusstsein eine entscheidende Rolle spielt, ist bereits seit einigen Jahren bekannt: Sobald die Oszillation im Gamma-Band während einer Narkose ausfällt, ist auch keine bewusste Wahrnehmung mehr möglich.

Zum Abschluss ihrer Hypothese wagen es die beiden Neurowissenschaftler schließlich doch, über die selbst gewählte Beschränkung auf das primäre Wahrnehmungsbewusstsein hinaus zu spekulieren. So postulieren sie, dass die zeitliche Bindung auch zusammenhängende großräumige neuronale Muster fördern könnte, wie sie vermutlich bei hoch komplexen geistigen Tätigkeiten notwendig sind. Ein solcher großräumiger Zusammenhalt lässt sich jedoch nicht durch eine simple Synchronisation neuronaler Prozesse erzeugen. Deshalb vermuten Engel und Singer, dass im menschlichen Gehirn ein übergeordnetes System existiert, das Nervenzell-Verbände hierarchisch ordnet: „Solche Bindungen höherer Ordnung könnten die Basis für so genannte Meta-Repräsentationen bilden, die nötig sind, um nachgeordnete Inhalte in globale Welt- und Selbstbewusstseins-Modelle einzubauen.“ Der Sturm auf die „Zitadelle“, wie Charles Darwin einst das menschliche Gehirn nannte, hat begonnen.

Rückfragen an: Dr. Andreas Engel Zelluläre Neurobiologie, Forschungszentrum Jülich, Stetternicher Forst, 52425 Jülich; Tel: 02461-61-2288; Fax: 02461-615327; E-Mail: a.k.engel@fz-juelich.de

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