Alterung ist ein europaweites Problem

Das Schrumpfen von Städten in Tschechien und Polen hat im Gegensatz zu Ostdeutschland bisher nicht zu massiven Wohnungsleerständen und Abrissen geführt. Leer stehende Wohnungen haben in den Ländern des früheren Ostblocks unterschiedliche Ursachen.

Zu diesem Ergebnis kommt ein Forschungsprojekt des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ), das die Entwicklung der Bevölkerung in den Städten Brno (Brünn) und Ostrava (Ostrau) in Tschechien sowie Gdansk (Danzig) und Nód? (Lodsch) in Polen mit Leipzig vergleicht.

Im Gegensatz zu Ostdeutschland sei der Leerstand in Polen und Tschechien keine Folge des Überangebots an Wohnungen sondern des großen Sanierungsbedarfes in den Altbauquartieren. Da viele Mieter nicht angemeldet seien oder Untermieter beherbergen würden, gebe die offizielle Statistik oft nicht die Realität wieder, so die Forscher. Gleichzeitig gebe es aber auch Parallelen zu Deutschland: Die Bevölkerung altert, die Haushalte schrumpfen, und immer weniger Menschen wohnen in der inneren Stadt.

Vom 14. bis 16. April diskutieren 130 Wissenschaftler aus 15 Ländern auf einer internationalen Konferenz am UFZ in Leipzig die Auswirkungen des demographischen Wandels auf europäische Städte. Bevölkerungsentwicklungen haben stets auch Auswirkungen auf die Umwelt. Beispielsweise werden leerstehende Wohnungen mitgeheizt, Flächen nach dem Abriss nicht entsiegelt.

Mehr als 81000 Einwohner hat Nód? seit der Wende verloren. Das ist mehr als jeder 10. Bewohner dieser polnischen Stadt. Auch in vergleichbaren tschechischen Städten sieht es nicht viel besser aus. Ostrava und Brno verloren jeweils sieben Prozent ihrer Bewohner. In beiden Ländern spielt die Alterung der Gesellschaft eine große Rolle.

Doch daneben gibt es auch Ursachen, die sich stark unterscheiden: Während in den polnischen Städten die Bevölkerung entweder in die Hauptstadt oder ins Ausland wegzieht, ziehen Bewohner der tschechischen Städte meist in Eigenheimsiedlungen im Umland. Diese so genannte Suburbanisierung spielt in Tschechien genauso eine große Rolle wie in Ostdeutschland in den 1990er Jahren. In Polen dagegen ist sie weniger von Bedeutung. Die Bevölkerungsverluste sind nur der Anfang: Da in den ehemals sozialistischen Ländern Osteuropas die Geburtenraten inzwischen zu den niedrigsten weltweit gehören, sind die Prognosen alarmierend. Das Statistische Hauptamt in Polen rechnet in den größeren Städten allein bis 2030 mit einem Rückgang der Bevölkerung um 20 bis 30 Prozent.

Auch innerhalb der Städte tut sich einiges: In allen vier untersuchten Städten haben die innenstadtnahen Wohngebiete zwischen den Volkszählungen 1991 und 2001 deutlich an Bewohnern verloren. Während die Gesamtbevölkerung in ?ód? um rund 10 Prozent zurückging, waren es in der inneren Stadt laut offizieller Statistik sogar 20 Prozent. Doch diese Zahlen sind aus Sicht der Sozialwissenschaftler mit Vorsicht zu betrachten. Gerade Innerstädte ziehen oft jüngere Menschen an, die sich nicht anmelden oder zur Untermiete wohnen. In Brno beispielsweise soll laut Volkszählung die Bevölkerung der inneren Stadt über dem Altersdurchschnitt der Gesamtstadt liegen. „Doch unsere qualitativen Studien ergaben für Brno eine deutliche und oft weder vom Einwohnermelderegister noch durch die Volkszählungen bemerkte Verjüngung der inneren Stadt“, schreiben die Forscherinnen in ihrem Zwischenbericht.

Ein genereller Trend ist jedoch auch in Polen und Tschechien zu registrieren: Die Zahl der Singles steigt. Einpersonenhaushalte machen derzeit zwischen 30 und 35 Prozent aus, in der inneren Stadt sogar 40 Prozent. Auch der Anteil Alleinerziehender hat sich erhöht. Dagegen hat der Anteil von Haushalten mit mehr als drei Personen, also die klassischen Familie, seit 1990 stark abgenommen.

Nach 1989 wurde der staatliche Wohnungsbestand in Polen und Tschechien in die Verantwortung der Kommunen übergeben und anschließend langsam privatisiert. Im Gegensatz zu den Plattenbaugebieten der Nachkriegszeit gehören zahlreiche Altbauwohnungen in der Innenstadt jedoch weiterhin den Kommunen und werden von den alteingesessenen Mietern als „Quasi-Eigentum“ betrachtet, die oftmals als Alleinstehende in großen Wohnungen leben. Dagegen können junge Haushalte häufig keinen geeigneten Wohnraum finden, was den Wohnungsmangel verschärft. Zudem gibt es in allen vier Untersuchungsstädten Aufwertungsgebiete mit einkommensstarken Bewohnern sowie Gebiete, in denen sich Einkommensschwache konzentrieren.

Der demographische Wandel und seine Folgen für die Stadtentwicklung ist ein gesamteuropäisches Phänomen. Langfristig wird er auch in Ostmitteleuropa ähnliche Folgen für die Nachfrage auf dem Wohnungsmarkt und die Auslastung der Infrastruktur haben wie sie schon jetzt in verschiedenen europäischen Regionen zu beobachten sind. Die heute in Ostdeutschland zu bewältigenden Probleme haben daher Signalwirkung für Polen und Tschechien in den nächsten Jahrzehnten, wo teilweise ähnliche Entwicklungen erwartet werden. Gleichzeitig können aber auch ostdeutsche Kommunen von ihren östlichen Nachbarn lernen. Zum Beispiel wirkt sich größere Autonomie der Stadtteile in Tschechien positiv auf deren Entwicklung aus.

Das Forschungsprojekt „Soziale und räumliche Konsequenzen des demographischen Wandels für ostmitteleuropäische Großstädte“ ist eines von fünf neuen Projekten, das die Volkswagenstiftung mit ihrer Förderinitiative „Einheit in der Vielfalt? Grundlagen und Voraussetzungen eines erweiterten Europas“ fördert. Am Beispiel tschechischer und polnischer Städte soll überprüft werden, welche Erfahrungen aus den neuen Bundesländern übertragbar sind und wo Besonderheiten bestehen. Das Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ) arbeitet dabei eng mit der Tschechischen und Polnischen Akademie der Wissenschaften sowie den Universitäten Gdansk und London zusammen.

Tilo Arnhold

Weitere Informationen:
Dr. Annegret Haase, Dr. Annett Steinführer, Dr. Katrin Großmann
Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ)
Telefon 0341-235-1735, -1736
http://www.ufz.de/index.php?de=1650
http://www.ufz.de/index.php?de=1666
http://www.ufz.de/index.php?de=13653
oder
Tilo Arnhold
Pressestelle des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ)
Telefon: 0341-235-1269
E-mail: presse@ufz.de
Publikation:
Annegret Haase, Katrin Großmann, Sigrun Kabisch, Annett Steinführer:
Städte im demographischen Wandel – Perspektivenwechsel für Osteuopa.
OSTEUROPA , 58. Jg., 1/2008, S. 77-90.
http://osteuropa.dgo-online.org/434.0.html#2023
Links:
International Conference
„Socio-demographic change of European cities and its spatial consequences“
http://www.condense-project.org/en_conf.html
Die internationale Konferenz „Sozialer und demographischer Wandel europäischer Städte“ am UFZ wird ergänzt durch eine Foto-Ausstellung ergänzt, die vom 10. April bis 12. Mai im Kunstverein Leipzig zu sehen sind:
perforiert: OSTRAVA – LEIPZIG – BRNO. Zeitgenössische Fotografie zum Bild der Stadt

http://www.idw-online.de/pages/de/news254060

Soziale und räumliche Konsequenzen des demographischen Wandels für ostmitteleuropäische Großstädte. Potentiale und Grenzen eines Erfahrungstransfers aus Westeuropa und Ostdeutschland

http://www.ufz.de/index.php?de=7028

VolkswagenStiftung unterstützt Erfahrungstransfer aus Ostdeutschland nach Ostmitteleuropa

http://www.ufz.de/index.php?de=5918

Im Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung – UFZ erforschen Wissenschaftler die Ursachen und Folgen der weit reichenden Veränderungen der Umwelt. Sie befassen sich mit Wasserressourcen, biologischer Vielfalt, den Folgen des Klimawandels und Anpassungsmöglichkeiten, Umwelt- und Biotechnologien, Bioenergie, dem Verhalten von Chemikalien in der Umwelt, ihrer Wirkung auf die Gesundheit, Modellierung und sozialwissenschaftlichen Fragestellungen. Ihr Leitmotiv: Unsere Forschung dient der nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen und hilft, diese Lebensgrundlagen unter dem Einfluss des globalen Wandels langfristig zu sichern. Das UFZ beschäftigt an den Standorten Leipzig, Halle und Magdeburg 900 Mitarbeiter. Es wird vom Bund sowie von Sachsen und Sachsen-Anhalt finanziert.

Die Helmholtz-Gemeinschaft leistet Beiträge zur Lösung großer und drängender Fragen von Gesellschaft, Wissenschaft und Wirtschaft durch wissenschaftliche Spitzenleistungen in sechs Forschungsbereichen: Energie, Erde und Umwelt, Gesundheit, Schlüsseltechnologien, Struktur der Materie, Verkehr und Weltraum. Die Helmholtz-Gemeinschaft ist mit 25.700 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in 15 Forschungszentren und einem Jahresbudget von rund 2,3 Milliarden Euro die größte Wissenschaftsorganisation Deutschlands. Ihre Arbeit steht in der Tradition des großen Naturforschers Hermann von Helmholtz (1821-1894).

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Tilo Arnhold idw

Weitere Informationen:

http://www.ufz.de/index.php?de=16581

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