Innovationen „made in China“

Prof. Uwe Rueckl, Leiter Research Technology Center China im Automation Lab der CT China.

Die Geschichte von Siemens in China ist fast so alt wie das Unternehmen selbst. 1872 hatte Siemens erstmals Zeigertelegrafen ins Reich der Mitte geliefert, 1899 die erste elektrische Straßenbahn des Landes. Über hundert Jahre ging das so: deutsche Wertarbeit für ein technologisches Entwicklungsland.

„Dann hat sich der Wind gedreht“, sagt Uwe Rückl und blickt aus dem Fenster seines Büros auf den imposanten 34-stöckigen Siemens-Turm im Nordosten von Peking. Die letzten sechs Jahre der Historie hat Rückl selbst erlebt, erst als R&D-Manager in Nanjing und seit 2012 als Leiter der Forschungsabteilungen bei Siemens Corporate Technology (CT) in China. Aus „Sold in China“ wurde in den 1990ern „Made in China“, dann „Developed in China“.

Die neue Herausforderung heißt: „Innovated in China“. Ein internationales Unternehmen, das im bevölkerungsreichsten und dynamischsten Land der Erde heute noch erfolgreich sein will, kann die Illusion von der billigen Werkbank begraben. Der komplette Wertschöpfungsprozess – von der Forschung über die Entwicklung bis zur Produktion – muss heute im China stattfinden, was eine klare Strategie der chinesischen Regierung ist.

Siemens hat das früh erkannt und schon 1998 eine eigene zentrale Forschungs-Einheit in Peking eingerichtet, die den Geschäftseinheiten bei Forschung und Entwicklung beiseite steht. Ab 2004 prägte Arding Hsu, der inzwischen pensioniert ist, den Geist der CT in China.

„Wir müssen Tempo machen“, betonte er immer wieder, damit Siemens seinen Vorsprung gegenüber den stärker werdenden lokalen Konkurrenten halten konnte. Damals wie heute galt als Motto der 400 CT-Mitarbeiter in China, darunter 220 Forschern sowie Patentexperten: gemeinsam mit den Geschäftseinheiten möglichst nahe an den Kunden sein und als Mittler zwischen den Kundenbedürfnissen und dem technologisch und wirtschaftlich Machbaren agieren.

Innovationen aus China: interessant auch für den Weltmarkt

Die Mission geht indes noch weiter: CT China möchte auch Chancen für das Unternehmen nutzen, die sich nur hier bieten. So ist es kein Wunder, dass in Peking unternehmensweit erstmalig die Methode des so genannten Industrial Design Thinking für nutzergetriebene Innovationsprozesse eingeführt wurde, die nun auch bei Siemens in Deutschland übernommen wird. „In China spielt das Kundenbedürfnis die entscheidende Rolle im Innovationsprozess. Die technologische Lösung kommt erst danach“, sagt Xiaoxun Zhu, der 2014 Nachfolger von Arding Hsu als Leiter von Corporate Technology in China wurde. Mittlerweile sind die Erkenntnisse über die speziellen Bedürfnisse chinesischer Kunden auch für Innovationen in anderen Ländern interessant, etwa die zunehmende Nutzung mobiler Geräte wie Smartphones zur Steuerung von Investitionsgütern.

Was chinesische Kunden wollen, sind vor allem drei Dinge: Die Produkte müssen auf die Anwendung fokussiert und zudem einfach zu nutzen sein, auch von ungelernten Arbeitern, und natürlich müssen sie auch kostengünstig sein. Ein Beispiel ist der Computertomograph: In Deutschland werden die Hightech-Diagnoseapparate zum Aufspüren auch seltener Krankheiten eingesetzt, sie haben hunderte Einstellmöglichkeiten, das Personal ist dafür bestens ausgebildet. In großen Kliniken in chinesischen Tier-2-Städten wir Nanjing oder Wuhan stehen hingegen bis zu 16 solcher Apparate in einer Art Turnhalle, pro Gerät werden fünfmal mehr Patienten durchgeschleust. Das Bedienpersonal und die Ärzte sind nicht so gut ausgebildet, sie beschränken sich auf immer wiederkehrende Befunde. Siemens hat für solche Kliniken einen Computertomograph entwickelt, der sich auf spezifische chinesische Anwendungen und Prozesse konzentriert, indem er das Personal bei der Bedienung anleitet und die Ärzte bei der Diagnose unterstützt.

Weniger ist mehr

Uwe Rückl zeichnet eine Kurve aufs Papier – die Nutzung eines Produkts über der Zahl seiner Funktionen – und erläutert die unterschiedlichen Bedürfnisse in unterschiedlichen Regionen. In Deutschland etwa hat ein Gerät alle nur erdenklichen Funktionen, um möglichst viele und teils spezifische Aufgaben abdecken zu können – was sich natürlich auch auf den Preis auswirkt. Anders sieht es in China aus: Für 80 Prozent der dortigen Anwendungen reichen meist 20 Prozent der Funktionen aus. Die wichtigste Aufgabe von CT China ist es also herauszufinden, welche 20 Prozent das sind, um neue innovative Anwendungen zum für den chinesischen Markt erforderlichen Kostenvorteil realisieren zu können. „Wir brauchen hier keine teuren High-End-Lösungen“, sagt Uwe Rückl. Statt dessen Lösungen, die auf die Kenntnisse und Interessen chinesischer Techniker zugeschnitten sind. Siemens hat reagiert und in China einen Industriemotor entwickelt, der hochintegriert ist und der sich mit einer App auf einem Mobilgerät von einem wenig qualifizierten Mitarbeiter betreiben und warten lässt .

SMART statt Alleskönner

Angebote in China müssen die folgenden fünf Eigenschaften erfüllen: Sie sollen einfach, wartungsfreundlich, erschwinglich, verlässlich und schnell am Markt sein. Aus dieser Erkenntnis wurde vor sechs Jahren bei CT China das Programm SMART (Simple, Maintenance-friendly, Affordable, Reliable, Time to market) gestartet. „Siemens hat sein SMART-Produktportfolio in China in den letzten zwei Jahren verdoppelt und wir müssen auf jeden Fall noch mehr tun“, sagt Uwe Rückl. Kenntnisse aus dem chinesischen Markt fließen mittlerweile auch in Lösungen für andere Märkte ein, etwa für Schwellenländer wie Indien oder Brasilien. Die Computertomographen aus China werden heute auch in diesen Ländern vermarktet.

Eine sechste Eigenschaft, die in den letzten Jahren dazu gekommen ist, wurde schon erwähnt: mobil. Chinesen sind vernarrt in ihre Smartphones. Das bietet Ansätze für überraschende Lösungen, wie beim Verkehrsmanagementsystem in Wuhan, wo Corporate Technology eine App fürs Smartphone entwickelt, mit der Polizisten den Verkehr besser steuern können. Auch hier kam die zündende Idee durch enge Kooperation mit Kunden in China.

Im Gegensatz zu manchem westlichen Wettbewerber hat Siemens dank SMART die Herausforderungen des chinesischen Marktes gut bewältigt und ist in den meisten Geschäftsbereichen gut im Geschäft. Das ist kein Anlass, sich zurückzulehnen. So werde das Thema Qualität immer wichtiger, hat Xiaoxun Zhu festgestellt, das sei normal für einen reifen Markt, der für Siemens nach den USA und Deutschland immerhin der drittgrößte ist. „Trotzdem müssen wir das Innovationstempo weiter hoch halten.“

Bernd Müller

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