Das Phänomen kollektiver Emotionen

Tausende Zuschauer drängen sich dicht an dicht, einander fremde Menschen jubeln gemeinsam, immer wieder schwappen Laola-Wellen durch die versammelte Menge – vertraute Szenen bei sportlichen Großereignissen.

Doch wie entstehen solche kollektiven Emotionen, wie entwickeln sie sich im Laufe eines Sportevents und wie lassen sie sich steuern? Diesen Fragen ist Torsten Schlesinger in seiner Promotion am Beispiel von sportbezogenen Marketing-Events nachgegangen.

Der Wissenschaftliche Mitarbeiter der TU Chemnitz beschäftigte sich zunächst aus theoretischer Perspektive mit dem Phänomen kollektiver Emotionen und führte anschließend eine empirische Fallstudie in der Mountainbike Freeride-Szene durch. Betreut wurde die Promotion von Prof. Dr. Siegfried Nagel, der die Professur Sportsoziologie/- ökonomie inne hatte.

„Immer mehr Unternehmen setzen bei ihrer Kommunikation auf Emotionen, die Events mit sportlichen Inhalten versprechen, um der potenziellen Zielgruppe produktspezifische Botschaften möglichst erlebnisorientiert zu vermitteln“, berichtet Schlesinger und ergänzt: „Allerdings können Defizite an fundiertem Wissen, sowohl hinsichtlich der Auslösemechanismen von Emotionen als auch hinsichtlich der Möglichkeiten zur Steuerung, für Unternehmen gravierende Folgen haben. Denn suboptimal erzeugte Emotionen gefährden nicht nur die Erlebniswirkung eines Events, sondern auch die Realisierung von strategisch bedeutsamen Kommunikationszielen des Unternehmens.“ Schlesinger hat aus systemtheoretischer Perspektive ein Emotionsmodell entwickelt, um zu verdeutlichen, wie es im Eventverlauf zu emotionalen Zuständen kommt, die von ganzen Gruppen geteilt werden.

Hierbei lassen sich zwei zentrale Dimensionen kollektiver Emotionen
aufzeigen: eine strukturelle und eine interaktive. Mit struktureller Dimension sind Emotionsregeln gemeint, die festlegen, welche Emotionen in welchen Situationen zulässig sind und welches emotionale Ausdrucksverhalten als angemessen gilt. Solche Emotionsregeln werden sozial erlernt – auch im Sport. So sind in Sportarten wie Fußball oder Eishockey Formen des Emotionsausdrucks sowohl bei Sportlern als auch bei Zuschauern üblich, die in anderen Sportarten, etwa beim Golf oder Reiten, verpönt sind. Entlang der interaktiven Dimension kollektivieren sich Emotionen über Ansteckungsprozesse. Hierbei stellt die soziale Nähe zur Gemeinschaft einen zentralen Faktor dar, damit es zur Überwindung der individuellen Immunschwelle kommt und man sich emotional anstecken lässt.

Im Rahmen der Fallstudie „Red Bull District Ride“ wurde anschließend den in der Theorie beschriebenen Wirkmechanismen mittels qualitativer und quantitativer Verfahren empirisch nachgegangen. Mehr als 40.000 Zuschauer verfolgten im August 2006 in Nürnberg den „Red Bull District Ride“, einen Contest mit 21 Mountainbike-Freeridern, darunter Top-Fahrer aus der ganzen Welt. „Solche innovativen Eventkonzepte bringen das Mountainbike Freeriding als sportliches Ereignis in urbanes Gelände, um das bestehende Image der Marke bei der Zielgruppe weiter zu verstärken“, erklärt Schlesinger. Der TU-Forscher nahm mit Unterstützung einer Projektgruppe aus zwölf Studierenden die Emotionen der Eventteilnehmer unter die Lupe, um einen vertieften Einblick in das emotionale Geschehen während des Eventverlaufs sowie die dahinter liegenden sozialen Auslösemechanismen zu erhalten. „Zunächst einmal zeigen die Analysen, dass sich während eines Events nicht nur emotionale Befindlichkeiten, sondern auch die Expressionen von Emotionen kontinuierlich verändern, was sich wiederum auf die Struktur der Eventsituation auswirkt“, erklärt Schlesinger.

Weiterhin lassen sich die Besucher in verschiedene Teilnehmertypen differenzieren: von den Insidern der Freeride-Szene über Sportinteressierte bis hin zu Zaungästen oder Schaulustigen. „Vor allem für die Szeneinsider stellen solche Veranstaltungen einen wichtigen Bestandteil ihrer Lebenswelt dar und sie zeigen ihre Leidenschaft für diese Sportart im Eventverlauf auch entsprechend. Dadurch grenzen sie sich von anderen Besuchern des Events ab. Das spezifische Wissen über die sportlichen und sozialen Praktiken im Mountainbike-Freeriding stellen dabei wertvolle Ressourcen der Stimmungsarbeit dar. In diesem Zusammenhang fällt aber auch auf, dass die Verhaltensweisen und Rituale der Freeride-Fans wesentlich von Emotionsregeln geleitet sind. Andere Teilnehmer, die mit den sportlichen Inhalten weniger vertraut sind, werden durch die entstehende Atmosphäre einfach mitgerissen“, resümiert Schlesinger.

Obwohl die Ergebnisse der Untersuchung auf einer Fallstudie basieren, lassen sich Ansatzpunkte zur Steuerung emotionaler Prozesse verallgemeinern, die für sportbezogene Eventkonzepte richtungsweisend sein sollten. Schlesinger macht deutlich, dass kollektive Emotionalität nur dann entstehen kann, wenn sportliche Inhalte auch authentisch realisiert und auf die Erwartungen der Zielgruppen abgestimmt werden. „Veranstalter sollten sich also mit den Besonderheiten der Sportart gut vertraut machen, damit sie nicht an den Erwartungen der Zielgruppe vorbei planen. Daher kann es für Unternehmen durchaus sinnvoll sein, Sportevents gemeinsam mit Insidern der Sportart zu entwickeln. Weiterhin lässt sich aus den empirischen Befunden folgern, dass Inszenierungsstrategien, die bereits vor dem Event sozusagen am Reißbrett entworfen werden, nicht zu einer zu starken Strukturierung des Events selber führen dürfen“, sagt Schlesinger.

So muss Freiraum bleiben, damit die Zuschauer in Orientierung an vorgegebenen Ritualen und Emotionsregeln kreativ und selbstbestimmt eigene Inszenierungen entwickeln. Insbesondere dann können diese Inszenierungen Teil eines kollektiven Ganzen werden und zu einer Aufhebung der Trennung zwischen Sportlern und Zuschauern führen.

Weitere Informationen erteilt Torsten Schlesinger, Telefon 0371 531-32936, E-Mail torsten.schlesinger@phil.tu-chemnitz.de.

Media Contact

Katharina Thehos TU Chemnitz

Weitere Informationen:

http://www.tu-chemnitz.de/tu/presse/

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