Neue Studie: Flexible Familien in einer flexiblen Arbeitswelt: Betriebe, Politik und Betreuungseinrichtungen sind gefordert

Das bringt neue Freiheiten und Chancen, aber auch Belastungen: Denn gleichzeitig wandelt sich die Arbeitswelt rasant, Mütter und Väter haben zunehmend flexible Arbeitszeiten und mobile Arbeitsorte, die Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit verschwimmen. Das Personalmanagement in den Betrieben und die öffentliche Infrastruktur hinken diesen Entwicklungen aber noch deutlich hinterher.

Die Folge: Eltern sparen nicht am Engagement für ihre Kinder. Doch oft sind die Alltagsstrategien, mit denen Familie und Beruf unter einen Hut gebracht werden sollen, alles andere als nachhaltige Modelle für gelungene Vereinbarkeit. Zu diesen Ergebnissen kommt eine aktuelle, von der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Untersuchung des Deutschen Jugendinstituts (DJI) und der TU Chemnitz, die heute auf einer Fachtagung am DJI in München vorgestellt wird*.

Basis der Studie sind Intensivinterviews mit 76 berufstätigen Müttern und Vätern, darunter auch Alleinerziehenden sowie eine Sekundäranalyse quantitativer Daten. Die Befragten arbeiten im Einzelhandel sowie in der Film- und Fernsehproduktion in München beziehungsweise Leipzig. Die Forscherinnen und Forscher wählten diese Branchen, weil sie für Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen stehen, die in hohem Maße zeitliche und/oder räumliche Flexibilität verlangen. So sind z.B. während einer Filmproduktion lange Arbeitstage, häufig mit offenem Ende, Wochenend- und Nachtarbeit durchaus üblich. Und auch die im Einzelhandel verbreitete hochflexible Teilzeit-Erwerbstätigkeit entspricht nicht mehr der klassischen Halbtagsarbeit am Vormittag. „Solche Arbeitsbedingungen betreffen immer mehr Erwerbsverhältnisse auch in anderen Berufsfeldern“, so der Arbeitsforscher Prof. Dr. G. Günter Voß von der TU Chemnitz.

Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beobachten einen „bedenklichen Grad von Belastungen bei fast allen Befragten. Viele Eltern sind erschöpft, sie befinden sich am Rande der Überforderung“, resümiert die Familienforscherin Dr. Karin Jurczyk, DJI. Das hängt auch damit zusammen, dass Arbeitgeber den Beschäftigten oft kaum Mitsprachemöglichkeiten bei der Gestaltung ihrer flexiblen Arbeitszeit einräumen: Kurzfristige Einsätze und stark schwankende Arbeitszeiten sind bei vielen Befragten üblich. Bei den „Kreativen“ der Film- und Fernsehbranche sowie den Führungskräften im Handel kommen plötzlicher Termindruck, schlecht planbare Dienstreisen und ständige Erreichbarkeit per Mobiltelefon auch am Feierabend hinzu. Zudem sind Kinderbetreuungseinrichtungen häufig noch nicht auf die flexibel Erwerbstätigen eingestellt: Insbesondere am frühen Morgen, nach 17 Uhr und am Wochenende vermissen Eltern, die außerhalb der Standardzeiten arbeiten, bezahlbare und gute Betreuungsangebote für ihre Kinder.

Die Untersuchung zeigt, dass die Betroffenen sehr unterschiedlich mit den Problemen umgehen. Entscheidend sind dabei nicht allein Rahmenbedingungen wie beruflicher Status und Einkommen, sondern auch die persönlichen Fähigkeiten, flexibel auf Schwierigkeiten zu reagieren. Manche Familien erweisen sich als ausgesprochen einfallsreich in der Bewältigung der Anforderungen. Dazu zählt allerdings auch, das berufliche Engagement zu reduzieren, weil der Betrieb nicht auf die familiären Belange eingeht oder weil die Belastungen auf andere Weise nicht in den Griff zu kriegen sind. Die möglichen Folgen: Menschen mit einem überforderten Alltagsleben werden schnell zu überlasteten, unproduktiven und demotivierten Mitarbeitern; Eltern kehren zu einem „re-traditionalen“ Geschlechterverhältnis zurück, obwohl sie es eigentlich anders gewollt hatten. D.h. die Erwerbsarbeit des Mannes steht im Mittelpunkt, die der Frau wird tendenziell zurückgefahren.

Die wissenschaftliche Nahaufnahme von „entgrenztem“ Arbeits- und Familienleben kommt zu dem Resümee: „Auch wenn das Vereinbarkeitsmanagement und die Organisation der täglichen Betreuung und Versorgung letztlich klappen, bleibt die Gemeinsamkeit, die Lust am Familienleben zunehmend auf der Strecke“, so Dr. Michaela Schier und Peggy Szymenderski, Mitarbeiterinnen des Forscherteams. Zuviel berufliche Mobilität erschwere ein gemeinsames Familienleben. Zeitlücken für die Familie müssten mühsam gesucht werden. Erschöpften Eltern fehle oft die Energie, sich wirklich aufeinander und auf ihre Kinder einzulassen. Vor allem die Selbstsorge komme zu kurz. Zunehmend erfahren auch aktive Väter Vereinbarkeitsprobleme.

Die gegenwärtige Vereinbarkeitspolitik nehme diese umfassenden Wandlungsprozesse nicht hinreichend zur Kenntnis, warnen Jurczyk und Voß. So würden flexible Arbeitszeiten allzu schnell als Lösung für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ausgegeben. Hilfreich seien sie aber nur dann, wenn die Beschäftigten einen stärkeren Einfluss auf deren Ausgestaltung nehmen können. „Die beste Familienpolitik kann nicht gelingen, wenn sie nicht durch ausreichende, gute und passende Betreuungsmöglichkeiten und eine Politik guter Arbeit begleitet wird“, erklären die Forscher und Forscherinnen. Dazu zählen neben besseren Partizipationsmöglichkeiten für alle Beschäftigten auch eine familienfreundlichere Karriere-Kultur: Beispielsweise sollten die „extensive Anwesenheitskultur“ sowie die steigenden Mobilitätserwartungen in vielen Unternehmen kritisch hinterfragt werden. Es brauche ein gemeinsames Konzept und „konzertierte Aktionen“ von Arbeitswelt und Familienpolitik, um Arbeiten und Leben in eine neue Balance zu bringen.

*Karin Jurczyk, Michaela Schier, Peggy Szymenderski, Andreas Lange, G. Günter Voß: Entgrenzte Arbeit – entgrenzte Familie. Edition Sigma Berlin, 2009

Media Contact

Andrea Macion idw

Weitere Informationen:

http://www.dji.de/termine/entgrenzung

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