Hirnforscher machen den Klang der Begriffe sichtbar: Wenn es beim Lesen des Wortes "Telefon" im Kopf klingelt

Haben Begriffe also einen Klang? Menschen sind ohne langes Nachdenken in der Lage, die Bedeutung von Wörtern wie Telefon, Rasenmäher und Staubsauger zu erfassen. Was im Alltag selbstverständlich erscheint, ist im Gehirn ein hoch komplizierter Prozess, dessen Entschlüsselung erst am Anfang steht. Abstrakt und unabhängig von der Sinneswahrnehmung scheint dieser Prozess jedenfalls nicht zu sein.

Die Ergebnisse der Ulmer Forscher, veröffentlicht im renommierten Journal of Neuroscience (19. November 2008, Vol 28(47), S. 12224-12230), fordern die herrschende Lehrmeinung heraus: „Unsere Ergebnisse belegen erstmals klar, dass Begriffe wesentlich in den Sinnessystemen des Gehirns verankert und keinesfalls abstrakt sind, wie lange Zeit angenommen wurde und häufig immer noch wird“, so Privatdozent Markus Kiefer, ,,Wenn diese Koppelung mit konkreter Sinneswahrnehmung für einen Begriff nicht vorhanden ist, nie gelernt wurde, bleibt dessen Bedeutung vage“. Diese Befunde seien für Eltern, Erzieher und Pädagogen von großer Bedeutung, berührten aber auch unmittelbar unser Alltagsverständnis von Lernen, Gedächtnis und Sprache.

Die Forscher haben die Gehirnströme von Probanden beim Lesen von Wörtern gemessen, und mittels funktioneller Kernspintomographie die Aktivität des Gehirns beobachtet. Sie konnten zeigen, dass beim Lesen von Wörtern, die sich auf geräuschhafte Gegenstände wie Telefon beziehen, Bereiche im Gehirn aktiviert werden, die auch beim tatsächlichen Hören der Geräusche aktiv sind. Beim Lesen von Wörtern ohne Geräuschbezug, wie beispielsweise ,Tisch', zeigten die Hörareale keine verstärkte Aktivität.

Kiefer und seine Kollegen konnten erstmals zweifelsfrei belegen, dass die Verarbeitung von Begriffen auf einer teilweisen Wiederherstellung der Hirnaktivität während der Sinneswahrnehmung beruht. Dies beginnt schon 150 ms nach dem Anblick des Wortes, also bevor das Bewusstsein den Begriff verarbeiten kann. Die Aktivität in den Arealen der Sinneswahrnehmung ist umso stärker, je mehr die Probanden Geräusche für das jeweilige Objekt als bedeutsam einschätzen.

„Über die Natur der Begriffe spekulierten Philosophen seit Jahrtausenden, ohne zu einer Einigung zu kommen“, so Kiefer. Einige Philosophen haben bereits vor einigen hundert Jahren vermutet, dass nichts im Verstand sei, was nicht vorher in den Sinnen war. „Wir können nun einen Schritt weiter gehen: Was wir sehen, hören, fühlen, riechen und schmecken, hinterlässt dauerhafte Gedächtnisspuren im Gehirn, welche die Bedeutung eines Begriffs ausmachen“.

Natürlich werde diese Verbindung einem Menschen nicht ständig bewusst. Nur so sei sicher gestellt, dass die Planung und Durchführung von Handlungen auf der tatsächlichen Wahrnehmung der Umwelt und nicht auf Vorstellungsbildern beruhe. „Es wäre ja auch äußerst lästig und verwirrend, wenn es in unserem Kopf immer hörbar klingelte, sobald unser Gesprächspartner das Wort Telefon in den Mund nimmt“, so Kiefer.

Die Studie der Ulmer Wissenschaftler weist aber darauf hin, dass Sinneserfahrungen ganz zentral für den Erwerb von Begriffen sind. Da Begriffe im Gehirn normalerweise eng mit den Bereichen für Hören, Sehen und Handeln verflochten sind, sollten Kinder beim Begriffserwerb ihre Umwelt mit möglichst vielen Sinnen erfahren, so Kiefer: „Begriffe sind verarmt, wenn während des Lernens nie die Möglichkeit bestand, die Gegenstände, auf die sie sich beziehen, auch zu hören, zu sehen, zu riechen und zu fühlen. Das Wissen bleibt dann blutleer, so dass sich Menschen nicht wirklich einen Begriff von ihrer Umwelt machen können“. So sei es beispielsweise problematisch, wenn Kinder heutzutage häufig Alltagsbegriffe wie Tiere oder Pflanzen nur durch das Fernsehen oder im Bilderbuch kennen lernten. Dann könnten sie keine reichhaltigen Begriffe über wichtige Zusammenhänge in ihrer Welt entwickeln.

Bisherige Untersuchungen wie die der Ulmer Forscher wurden an konkreten Begriffen durchgeführt, die sich auf reale Gegenstände beziehen. Kiefer vermutet jedoch, dass selbst abstrakte Begriffe wie Freiheit, Gerechtigkeit, Optionsschein oder Termingeschäft letztendlich in Sinneswahrnehmungen gegründet sein müssen, um ein echtes Verständnis von dem Sachverhalt gewinnen zu können: „In der Regel kann eine Definition der Bedeutung von abstrakten Begriffen wie Freiheit oder Gerechtigkeit nur dann zweifelsfrei erreicht werden, wenn der Begriff in eine konkrete, wahrnehmbare Situation eingebettet ist. Unser Gehirn kann wahrscheinlich immer nur durch den Bezug zu Wahrnehmung und Handlung einem Begriff eine Bedeutung verleihen. Ist dies nicht gewährleistet, können wir zwar mit den Worten sprachlich umgehen, ohne aber deren Sinn wirklich zu verstehen.“

Welche gravierenden gesellschaftlichen Konsequenzen ein mangelndes Verständnis abstrakter Begriffe haben kann, zeigt laut Kiefer die aktuelle Finanzkrise. Diese sei nicht zuletzt dadurch bedingt, dass Bankmanager über keine adäquaten Begriffe ihrer hochkomplexen Finanzprodukte verfügten. „Ein Optionsschein an der Börse ist dann nur ein Blatt Papier, dessen Bedeutung für die realen Finanzmärkte nur unvollständig nachvollzogen werden kann. Da klingelt nichts im Kopf.“

Eine Aussage Konfuzius von vor über zweieinhalbtausend Jahren sei deshalb bedeutender denn je: „Wenn die Begriffe nicht richtig sind, so stimmen die Worte nicht; stimmen die Worte nicht, so kommen die Werke nicht zustande“, zitiert Kiefer den chinesischen Philosophen.

Für mehr Information zur neurowissenschaftlichen Begriffsforschung, für Bildmaterial sowie für Interviewanfragen wenden Sie sich bitte an PD Dr. Markus Kiefer, Universität Ulm, Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie III, Leiter der Sektion für Kognitive Elektrophysiologie (Tel. 0731/500-61532, 0160-98772066; markus.kiefer@uni-ulm.de)

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Willi Baur idw

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