Wer dick ist, wird leicht auch für dumm gehalten

In den USA haben Studien ergeben, dass fettleibige Menschen von ihren Mitmenschen generell negativ eingeschätzt werden. Nicht nur werden sie für weniger attraktiv, sondern auch für weniger intelligent und weniger leistungsbereit gehalten. Der Tübinger Sportsoziologe Prof. Ansgar Thiel hat untersucht, ob schon Kinder und Jugendliche solche Vorurteile gegenüber deutlich übergewichtigen Altersgenossen hegen.

Was Kinder und Jugendliche über fettleibige Altersgenossen denken

Kinder können gegenüber ihren Altersgenossen grausam sein. Wer zum Beispiel anders aussieht als die anderen, wird schnell ein Opfer von Hänseleien. So geht es oft auch dicken und vor allem fettleibigen Kindern und Jugendlichen, obwohl immer mehr Menschen im frühen Alter übergewichtig sind. Prof. Ansgar Thiel und Manuela Alizadeh vom Institut für Sportwissenschaft der Universität Tübingen und Prof. Stephan Zipfel von der Abteilung Psychosomatik der Medizinischen Universitätsklinik Tübingen haben in einer Befragung von rund 450 Schülern im Alter von zehn bis 15 Jahren festgestellt, dass diese ihren stark übergewichtigen Altersgenossen auffallend häufig ablehnend gegenüberstehen und ihnen gegenüber generell Vorurteile hegen. Den Ergebnissen der Studie „Stigmatisierung adipöser Kinder und Jugendlicher durch ihre Altersgenossen“ zufolge sind vielen Kindern und Jugendlichen fettleibige Gleichaltrige nicht sympathisch und sie halten sie zudem für weniger intelligent und fauler als normalgewichtige Altersgenossen.

„In der Tübinger Sportsoziologie forschen wir in verschiedenen Themenbereichen über Stereotypen“, sagt Ansgar Thiel. In dieser Studie seien er und seine Kollegen der Frage nachgegangen, was es ist, das adipöse Kinder auffällig macht. Adipös bedeutet: deutliches Übergewicht, ein Body-Mass-Index (BMI) von 30 und größer. Der BMI, das Verhältnis von Körpergröße und -gewicht, wird berechnet als das Gewicht in Kilogramm geteilt durch die Körpergröße in Metern zum Quadrat. „Adipöse Kinder und Jugendliche fallen natürlich erst einmal durch ihre Körperfülle auf, häufig aber auch durch ihre Bewegungseinschränkungen“, sagt der Sportsoziologe. Wenn es um Schönheitsideale gehe, wenn sich Kinder zur Musik bewegten, fielen die adipösen Kinder aus dem Rahmen. In den USA hat man bereits vor einigen Jahren mit Studien zur Stigmatisierung adipöser Menschen begonnen. Sie seien von ihren Mitmenschen generell als weniger attraktiv, weniger intelligent und als nicht leistungsbereit eingestuft worden, sagt Thiel. Der Tübinger Forscher wollte wissen, ob dieses Bild von stark übergewichtigen Menschen bereits bei Kindern zu finden ist.

Kinder sind jedoch nicht so einfach zu befragen wie Erwachsene. Daher haben sich die Forscher auf bestimmte Stereotype konzentriert, nämlich auf die fünf Aspekte Attraktivität, Intelligenz, Leistungsbereitschaft, Spielpartnerpräferenz und Sympathie. Befragt wurden 230 Mädchen und 224 Jungen im Alter von zehn bis 15 Jahren. Der eine Teil von ihnen besucht eine Hauptschule, der andere ein Gymnasium. „Wir haben die Untersuchung sehr einfach gehalten“, sagt Ansgar Thiel. „Wir hatten Fotos von Kindern, die eine Art mittleren Durchschnittstyp darstellten: jeweils einen normalgewichtigen Jungen und ein Mädchen, jeweils einen normalgewichtigen Jungen und ein Mädchen im Rollstuhl sowie zwei adipöse Kinder, auch hier einen Jungen und ein Mädchen.“ Diese sechs Bilder sollten die Studienteilnehmer nach Sympathie in eine Reihenfolge bringen beziehungsweise danach, mit wem sie am liebsten spielen würden. Bei der Intelligenz, der Faulheit und der Attraktivität fiel vielen Kindern die Sechser-Reihenfolge schwer. „Dort haben wir daher nur gefragt, wer von den Sechsen jeweils das intelligenteste, das am wenigsten intelligente, welches Kind am hübschesten und am wenigsten hübsch war.“ Als faul seien in früheren Studien adipöse Menschen oft tituliert worden. Daher fragten die Forscher die Schüler, die an der Studie teilnahmen, auch: Wer ist von den sechs dargestellten Kindern am ehesten das faulste, welches das am wenigsten faule?

Die Studienergebnisse fasst der Sportsoziologe Thiel so zusammen: Die adipösen Kinder wurden als am wenigsten sympathisch angesehen und am seltensten als Spielkameraden bevorzugt. Am sympathischsten war den Studienteilnehmern das normalgewichtige Mädchen. Die Werte der körperbehinderten Kinder lagen etwa in gleicher Höhe wie die des normalgewichtigen Jungen. „Bei der Spielkameradenpräferenz lehnten die weiblichen Studienteilnehmer die adipösen Kinder noch stärker ab als die Jungen“, sagt Thiel. Das normalgewichtige Mädchen hielten die meisten Befragten für das hübscheste Kind. In dieser Kategorie seien die körperbehinderten nicht öfter genannt worden als die adipösen Kinder: „Als am wenigsten hübsch stuften 87,1 Prozent der Befragten die adipösen Kinder ein, allein 69,5 Prozent den Jungen.“

Doch damit nicht genug. Die übergewichtigen Kinder wurden in den restlichen Kategorien am häufigsten mit schlechten Eigenschaften in Verbindung gebracht. „Die adipösen Kinder wurden nur in 2,6 Prozent der Fälle als die intelligentesten eingeordnet. Das adipöse Mädchen nannten 25 Prozent als das am wenigsten intelligente Kind, den adipösen Jungen sogar zwei Drittel“, sagt Thiel. Dick wurde sehr häufig auch mit faul gleichgesetzt: Die beiden adipösen Kinder wurden zu fast 95 Prozent als die faulsten angenommen, der Junge allein schon mit 75 Prozent. Thiel erklärt diesen Unterschied in den Befragungsergebnissen zwischen dem adipösen Jungen und dem Mädchen damit, dass in diesem Alter die Sportlichkeit und Körperlichkeit bei einem adipösen Jungen als stärker beeinträchtigt wahrgenommen werde als bei einem Mädchen. „Ganz auszuschließen ist natürlich auch nicht, dass es an den konkreten Bildern gelegen hat“, sagt er. Bei der Intelligenz und der Faulheit urteilten die befragten Jungen und Mädchen etwa gleich, außerdem habe es kaum Unterschiede zwischen den Befragungsergebnissen der Schüler von der Hauptschule und dem Gymnasium gegeben. Nur der adipöse Junge sei von den Hauptschülern in Sachen Faulheit minimal weniger negativ gesehen worden.

„Insgesamt bestätigten die Studienergebnisse die früheren US-amerikanischen Studien in erschreckender Weise – obwohl unsere Fragen bewusst sehr einfach gehalten, sehr stereotyp waren“, wie der Forscher sagt. Allerdings habe es bei den Studienteilnehmern manchmal Diskussionen gegeben über die Art der Befragung, der Zuordnung von Eigenschaften zu Kindern, die man nur auf einem Bild gesehen hat. Manche Schüler hätten sich auch geweigert mitzumachen.

Doch wie kommt es eigentlich zu einem solch negativen Bild von stark übergewichtigen Menschen? Noch in den 1950er-Jahren hat man Menschen mit großer Körperfülle oft als besonders erfolgreich angesehen. „Das Bild scheint in den 70er-Jahren gekippt zu sein mit dem Aufkommen des Massensports“, sagt der Sportsoziologe Thiel. „Das Aussehen erhielt einen höheren Stellenwert.“ Übergewicht könnte dem Wissenschaftler zufolge auch deswegen als negativ empfunden werden, weil die Gesellschaft „entkörperlicht“ wurde, mangels zu verrichtender körperlicher Arbeit. „Jetzt heißt das Schlagwort Fitness – und das ist Arbeit an sich selbst. Adipösen wird eine mangelnde Bereitschaft unterstellt, an sich zu arbeiten. In diesem Sinne gelten sie dann als faul“, sagt Thiel. Das führt zur Stigmatisierung. Er will die sportsoziologischen Untersuchungen an adipösen Kindern fortsetzen: Haben sie einen kleineren Freundeskreis als andere Kinder? Suchen sie sich häufiger virtuelle Freunde? Werden sie generell zu bewegungsfeindlichen Menschen? Antworten auf solche Fragen wären auch wichtig, um negativen Entwicklungen im späteren Leben adipöser Kinder früh entgegenwirken zu können. (7250 Zeichen)

Nähere Informationen:

Prof. Ansgar Thiel
Institut für Sportwissenschaft
Wächterstraße 67
72074 Tübingen
Tel. 0 70 71/2 97 64 11
Fax 0 70 71/5 24 05
E-Mail ansgar.thiel@uni-tuebingen.de

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Michael Seifert idw

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