Lohnspreizung in Deutschland so groß wie in Großbritannien – Analyse zu Niedriglöhnen und Beschäftigung

Mittlerweile ist die so genannte „Lohnspreizung“ größer als in vielen anderen nord- und westeuropäischen Ländern. Gleichzeitig stieg die Arbeitslosigkeit unter Personen ohne Berufsabschluss in Deutschland erheblich. Die Entwicklung steht im Widerspruch zur verbreiteten These, dass gering Qualifizierte bessere Beschäftigungschancen haben, wenn ihre Löhne vergleichsweise niedrig sind.

Dieser Widerspruch ist kein Einzelfall. Auch in anderen europäischen Ländern oder in den USA lässt sich kein Beleg dafür finden, dass eine geringe Lohnspreizung Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich vernichtet – wohl aber zahlreiche Indizien, die diesem Zusammenhang widersprechen. Zu diesen Ergebnissen kommt eine Studie von Prof. Dr. Ronald Schettkat.

In der von der Hans-Böckler-Stiftung geförderten Untersuchung analysiert der Wuppertaler Professor für Volkswirtschaftslehre den aktuellen Stand empirischer Forschung zum Zusammenhang von Lohnspreizung und Beschäftigung. Dabei zeigt sich: Schon die Behauptung, Tarifsystem und staatliche Transfers führten in Deutschland zu einer besonders „komprimierten“ Struktur der Löhne, die wiederum die Arbeitsmarktchancen von gering Qualifizierten schmälere, ist längst überholt: „Die Diagnose einer relativ engen, stabilen deutschen Lohnstruktur beruht offenbar auf einer Begrenzung der Analysezeitraumes bis Mitte der 1990er Jahre einerseits und auf einer Eingrenzung des analysierten Personenkreises auf vollzeiterwerbstätige Männer andererseits“, schreibt Schettkat. Tatsächlich arbeiten in Deutschland überproportional viele Frauen und Teilzeitkräfte für Niedriglöhne. Wer diese Gruppen ausklammert, kann den Niedriglohnsektor in Deutschland nicht richtig erfassen.

Ein nach Schettkats Analyse realistisches Bild liefert die europäische Statistikbehörde Eurostat. Die Statistiker der EU untersuchten 2005 die Lohnstrukturen in den Mitgliedstaaten. Dabei verglichen sie die zehn Prozent der niedrigsten Arbeitseinkommen mit jenen, die auf der Lohnskala im oberen Bereich rangieren. Das Ergebnis: Deutschland lag gleichauf mit Großbritannien, dem Land, das, so Schettkat „bisher als Spitzenreiter hinsichtlich der Lohnspreizung in Westeuropa galt.“ Setzt man die untersten zehn Prozent mit den mittleren Einkommen ins Verhältnis, weist Deutschland sogar die größte Spreizung in Westeuropa auf.

Auch im Vergleich zu den Vereinigten Staaten erscheint die deutsche Lohnstruktur nicht „gestaucht“. In den USA gibt es zwar insgesamt betrachtet eine größere Lohnspreizung. Doch diese beruht auch auf der großen Spanne innerhalb der Spitzeneinkommen. Der Lohnabstand zwischen ungelernten Arbeitnehmern und ihren Kollegen mit Berufsausbildung ist in Deutschland deutlich größer als in Amerika, so Schettkats Analyse. Im unteren Lohnbereich liegen sowohl der gesetzliche US-Mindestlohn als auch das als faktischer Mindestlohn geltende Arbeitslosengeld II in Deutschland ungefähr gleich hoch – bei einem Drittel des Durchschnittslohns.

Amerikanische Untersuchungen fanden zudem keinerlei Belege dafür, dass zu hohe Löhne einfache Beschäftigung verhinderten. So sanken in den 80er Jahren die realen US-Mindestlöhne, aber der Anteil gering Qualifizierter an den Beschäftigten stieg nicht an. Wenn sich der US-Mindestlohn hingegen erhöhte, ging das nicht mit Beschäftigungsverlusten einher. Stattdessen rückte die Lohnverteilung zusammen. „Die höhere Dichte nach Anhebung der Mindestlöhne ist ein Indiz dafür, dass Jobs mit Löhnen unterhalb des neuen Mindestlohns nicht einfach wegfallen, sondern vielmehr auf den Mindestlohn angehoben werden“, analysiert der Ökonom Schettkat.

Die Ergebnisse legen nahe, dass nicht die deutsche Lohnstruktur die überproportionale Arbeitslosigkeit unter gering Qualifizierten verursacht. Entscheidend sei vielmehr ein anderer Faktor, so Schettkat. Der technische Fortschritt erfordere immer mehr qualifizierte Arbeit. Deshalb würden in allen hoch industrialisierten Volkswirtschaften weniger Menschen mit geringerer Ausbildung beschäftigt.

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